Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
einst um Sie, Ihre Familie und Ihren armen Vater rankten, weil schließlich jedermann überzeugt war, dass er erheblich mehr wusste, als er durchblicken ließ. Das war doch so, oder? Und noch eins. Ich finde es schon ein bisschen merkwürdig, dass diese Sache Sie so intensiv beschäftigt. Ohne die regelmäßige Dosis Drama fehlt Ihnen was, habe ich das Gefühl. Wahrscheinlich stehen Sie nicht mehr so schön im Mittelpunkt wie früher. Und außerdem haben inzwischen alle Ihren Bruder vergessen, stimmt’s? Ist das nicht ungerecht? Sie wollen doch sicher auch, dass sich die Leute an Charlie erinnern.«
Ich blieb stumm. Sie lehnte sich zu mir herüber, sodass sich ihre Brüste auf der fettigen Tischplatte breitdrückten. » Es ist Ihre Entscheidung, Sarah. Sie haben die Wahl, ob Sie mit mir reden oder nicht. Ich kann den Artikel durchaus ohne Sie schreiben. Oder« – sie lächelte scheinheilig– » ich kann auch gleich zu Ihrer Mutter gehen.«
» Nein, tun Sie das bitte nicht«, begehrte ich verzweifelt auf. » Lassen Sie meine Mutter aus dem Spiel.«
» Aber warum denn? Sie kann mir doch sicher wertvolle Einblicke geben.« Carol lehnte sich zurück. » Sie wissen doch, warum Ihr Vater sich umgebracht hat, Sarah…«
» Es war ein Unfall.«
Carol legte noch einen Zahn zu: » Ein Unfall, mit dem Sie und Ihre Mutter ausgesorgt hatten. Hübsches kleines Sümmchen von der Lebensversicherung. Ihre Mutter braucht seitdem nicht mehr zu arbeiten.«
Brauchte sie nicht, das stimmte zwar, aber es war alles andere als gut für sie. Wortlos stand ich auf und griff nach meiner Tasche. Ich war zu wütend, um noch etwas zu sagen.
» Bevor Sie einfach rausrennen, sollten Sie noch mal kurz nachdenken«, sagte Carol. » Wenn Sie mitspielen, unterhalten wir uns einfach ein bisschen, und ich sorge dafür, dass Sie wie ein Engel dastehen. Ich werde nicht mal Ihren Namen verraten. Sie bekommen Gelegenheit, ein paar Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Und ich bekomme eine nette Geschichte, wie sie das Leben schreibt und die sich ausgezeichnet in den Sonntagszeitungen macht. Ich denke, die Sunday Times ist der beste Platz dafür. Oder auch der Observer. Auf alle Fälle eins von den richtig großen Blättern.«
Hin- und hergerissen zögerte ich immer noch. Carol war nicht zu trauen. Aber andererseits konnte ich mich absolut darauf verlassen, dass Sie mich in ein denkbar schlechtes Licht rücken würde. » Es war nicht leicht für mich, meine Privatsphäre zu wahren. Ich will nicht fotografiert werden. Ich will nicht, dass aus diesem Artikel meine Identität erkennbar wird.«
» Selbstverständlich– das ist gar kein Problem. Sie wissen doch«, schnatterte sie, » das hängt ganz allein von Ihnen ab.«
Das stimmte natürlich nicht. Eigentlich hätte ich ihr sagen sollen, dass sie sich zum Teufel scheren sollte. Mir war die Sinnlosigkeit dieses Gesprächs klar bewusst. Aber das Risiko konnte ich auch nicht auf mich nehmen.
Schachmatt ließ ich mich auf die Stuhlkante sinken. » Also, was wollen Sie wissen?«
1992
Seit sieben Wochen vermisst
Der typische Schulgeruch am ersten Tag nach den Ferien– Kreidestaub, frische Farbe, Desinfektionsmittel, neue Bücher. Vorn steht meine neue Lehrerin. Sie ist neu an der Schule, groß und schlank mit sehr kurzen, dunklen Haaren und grünen Augen. Miss Bright heißt sie.
Ich komme als Letzte herein, bin aufgeregt, unruhig und ein bisschen ängstlich. Dad hat mir eine neue Schultasche und ein dazu passendes Federmäppchen mit Belle aus Die Schöne und das Biest gekauft. Ich merke, wie Denise Blackwell sie anschaut, als sie sich in meine Nähe setzt. Ich schaue sie lächelnd an. Mit ihr wollte ich schon immer befreundet sein. Denise hat weißblondes Haar, winzige glitzernde Ohrstecker und steht immer so mit den Füßen nach außen da wie eine Tänzerin.
Doch statt zurückzulächeln, schaut mich Denise ungefähr eine Minute lang an, dreht sich dann weg und fängt an, mit Karen Combes zu flüstern. Karen läuft immerzu die Nase, und gleich am ersten Schultag hat sie sich eingepinkelt. Ich merke, dass es bei ihrem Geflüster um mich geht, denn Karen beugt sich nach vorn und starrt mich an, während Denise mit ihr redet. Ich verziehe das Gesicht und bedecke mit dem Arm meine Augen.
Neben meinem Tisch taucht eine Gestalt auf: Miss Bright. » Oje. Da langweilt sich wohl jemand schon? Das ist aber kein guter Start. Du siehst ja aus, als wolltest du gleich einschlafen. Na komm schon, setz dich
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