Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
jung jedenfalls, um derart eingesperrt zu sein. Ich wusste, dass ich ein schlechtes Gewissen haben würde, wenn ich jetzt einfach ging und ihn im Stich ließ. Wir Überlebenden mussten schließlich zusammenhalten.
» Danke«, sagte ich also erfreut und trat über die Schwelle, wobei es mich einige Mühe kostete, nicht den Atem anzuhalten. Im Haus roch wie es wie in einem Umkleideraum: nach alten Socken, feuchter Kleidung und Schweiß. Paul schloss die Tür hinter mir und geleitete mich durch den Flur in die Küche. Der Grundriss des Hauses war so wie unserer, doch der Flur kam mir anders vor, viel dunkler. Als ich mich umschaute, sah ich, dass die Tür zum Wohnzimmer geschlossen war. Zu Hause hatten wir eine Tür mit Glaseinsatz, diese hier war undurchsichtig. Dadurch wirkte der Flur um einiges kleiner. Ich war froh, als wir in die Küche kamen, wo die Nachmittagssonne sämtliche Staubkörnchen sichtbar machte, die in der Luft schwebten. Das Zimmer war angenehm warm und gar nicht so ungemütlich. An einer Wand stand ein Sofa und in der Mitte ein mit Büchern und losen Blättern bedeckter Tisch, dazwischen ein Laptop. Offenbar diente der Raum als Wohnzimmer und Küche zugleich und hatte trotz der Unordnung etwas Anheimelndes. Im Abtropfkorb türmten sich Geschirr und Töpfe, jedoch alles sauber gespült. Es gab nur wenige Schränke, die offensichtlich die Überreste einer Einbauküche waren, denn an den Wänden sah man noch die Spuren, wo der größte Teil davon herausgerissen worden war. Eine Schranktür hing lose in den Angeln und offenbarte etliche Reihen von Dosenbohnen und Cornflakes-Packungen, die gleich en gros gekauft worden waren. Eine etwas ramponierte Mikrowelle sah aus, als sei sie in den letzten Jahren im Dauereinsatz gewesen. In der Ecke summte eine gigantische Tiefkühltruhe vor sich hin, und daneben stand ein ebenfalls recht großer, verbeulter Kühlschrank. Oben auf dem Kühlschrank befand sich jedoch eine ausgesprochen teuer aussehende iPod-Musikanlage, und an der Wand gegenüber dem Sofa hing ein gigantischer Fernseher. Danny gab sein Geld also offenbar lieber für Unterhaltungselektronik als für Wohnkomfort aus.
» Setzen Sie sich doch«, sagte Paul und zeigte zum Tisch. Ich trat näher und zog einen der Plastikstühle hervor. Als ich ihn losließ, kippte er bedrohlich zur Seite, weil er, wie ich feststellen musste, nur drei Beine hatte.
Hinter mir kicherte es. » Nicht den da. Das vierte Bein ist hier.« Paul deutete auf die Arbeitsfläche, wo ein zersplittertes Stuhlbein lag. » Das hat Danny neulich zerlegt und…«
Ohne ersichtlichen Grund unterbrach er sich und wirkte plötzlich nervös. Ich ging nicht weiter darauf ein und suchte mir einen anderen Stuhl.
» Tee?« Paul trottete hinüber zum Wasserkocher.
» Ja, das wäre nett.« Ich hoffte inständig, dass die Tasse einigermaßen keimfrei war, und beobachtete, wie er mit Tassen und Teebeuteln hantierte. Trotz seiner Körpermasse bewegte er sich erstaunlich flink, obwohl die leichte Anstrengung ihn bereits zum Keuchen brachte. Er agierte mit einer Selbstsicherheit, die ich für einen Jungen seines Alters ungewöhnlich fand. Mein Nachbar wurde mir allmählich sympathisch. Er bemerkte, dass ich ihn beobachtete und grinste mich gewinnend an. Allem Anschein nach freute er sich darüber, dass ich geblieben war– nur der Grund war mir nicht ganz klar.
» Milch?«, fragte er und öffnete den Kühlschrank, in dem sich etliche Zwei-Liter-Kartons Vollmilch, eine Palette Bierdosen, becherweise Schokopudding und zahlreiche Packungen Scheibenkäse und Kochschinken befanden. Von Obst oder Gemüse keine Spur.
Paul hielt den Milchkarton schon über eine der Tassen und wartete auf eine Antwort.
» Einen kleinen Schluck«, erwiderte ich rasch.
» Zucker?«
» Nein danke.«
Paul kippte in seine Tasse vier gehäufte Teelöffel Zucker und rührte kräftig um. Beeindruckt sah ich ihm zu und schenkte meinem eigenen Zahnschmelz einen fürsorglichen Gedanken. Er schob einen Papierstapel beiseite und stellte meine Tasse vor mir ab. Dann schlurfte er zum Regal und zog ein Paket Schokokekse heraus. Nachdem ich dankend abgelehnt hatte, ließ er sich auf den Stuhl mir gegenüber fallen, nahm drei Kekse auf einmal aus der Packung, tauchte sie für einige Sekunden in seinen Tee und beförderte die klebrige Masse in den Mund. Ich beobachtete fasziniert, wie sich seine Wangen ausbeulten gleich dem mit lebendiger Beute gefüllten Leib einer Python.
Als er wieder
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