Die Verraeterin
Wellen erfasst und unter Wasser gezogen wurden. Jetzt war die Asche wirklich auf dem Weg zu ihrer letzten Ruhestätte auf dem Grund des großen, zauberhaften Mittelmeers.
Eliana fragte sich manchmal, ob sich an der Mündung des Tiber, wo der Fluss ins Meer floss, vielleicht ein großer Haufen von Ikati-Asche wie Treibsand angesammelt hatte.
Da sie eine Vollblut-Ikati und die Tochter des Königs war und zudem von den Ältesten des Stammes als spem futuri gesehen wurde – als Hoffnung für die Zukunft, was auch immer das bedeuten mochte –, wurde Eliana als zu wichtig empfunden, um am monatlichen Purgare teilnehmen zu müssen. Sie blieb stattdessen bewacht in den Katakomben, wo sie geboren worden war und in denen sie seitdem jede Minute ihres Lebens verbracht hatte.
Doch in dieser Nacht würde sie endlich frei sein.
In den vergangenen Tagen war sie höchst angespannt und nervös gewesen. Es fiel ihr schwer, ihre wahren Gefühle zu unterdrücken, und es gelang ihr nur, indem sie sich klar machte, dass ein Versagen ihrerseits nicht nur bedeutete, dass man sie erwischte, sondern dass es zu einer Katastrophe kommen würde. Sie wollte sich allerdings nicht näher damit auseinandersetzen, was eine solche Katastrophe bedeuten würde, denn ihre ganze Aufmerksamkeit und ihre Fantasie waren allein von dem Gedanken in Beschlag genommen, endlich allein – und draußen – mit Demetrius sein zu können.
Mit einem leidenschaftlichen, ja gierigen Ausdruck in den Augen hatte er ihrer Bitte zugestimmt und so zugleich sein Verlangen nach ihr deutlich signalisiert. Er wollte sie genau so sehr, wie sie ihn wollte. Jetzt hatte sie ihren Beweis, der sich in seiner offenen Bereitschaft zeigte, es zu riskieren, getötet zu werden, nur um ein paar Stunden mit ihr zu verbringen. Sie wusste noch immer nicht, was er genau geplant hatte und wie er vorgehen wollte, denn in den vergangenen Tagen hatte er kein Wort mit ihr gewechselt. Er hatte sie nur mit dieser stummen, lodernden Intensität angesehen, wenn sich ihre Wege gekreuzt hatten. Doch sie wusste, dass er eine Möglichkeit finden würde, sie zu treffen. Obwohl Celian der Anführer der Bellatorum war, schien D der klügste von ihnen zu sein, der am ehesten bereit war, Risiken auf sich zu nehmen und zu widersprechen. Genau das liebte sie an ihm. Sie musste nur den Mann, der sie überwachte, lange genug abschütteln, um bis zur versunkenen Kirche zu gelangen, und dann würde D sich schon um den Rest kümmern.
Sie seufzte ungeduldig und in Vorfreude, als ihr Vater ins flackernde Licht des großen, weiß gehaltenen Schlafzimmers trat, das allein durch Kerzen beleuchtet war.
»Eliana«, sagte er, und sie zuckte schuldbewusst zusammen.
»Vater!« Hastig sprang sie aus dem Sessel in der Nähe ihres Himmelbetts auf und klappte das Buch zu, das sie verschlungen hatte – einen Stadtführer für Rom. »Ich habe nicht gedacht, dass ich dich schon so früh sehen würde, guten Morgen!« Obwohl es in den Katakomben keine Uhren gab, wusste sie, dass es früh am Morgen war. Sonnenaufgang und Sonnenuntergang wurden von den Ikati selbst weit unter der Erde ebenso stark empfunden wie Hunger oder Durst. Uhren waren sowieso völlig unnötig, niemand musste irgendwo zu einem bestimmten Zeitpunkt erscheinen.
»Auch ich wünsche dir einen guten Morgen.« Über die Lippen ihres Vaters huschte ein kleines, geheimnisvolles Lächeln. Er eilte raschen Schrittes über den Steinboden mit seinen weichen Teppichen und umarmte Eliana. »Ich werde den ganzen Tag beschäftigt sein. Aber ich wollte dich noch vor dem letzten Purgare heute Abend sehen«, murmelte er in ihre Haare.
Eliana löste sich von ihm und musterte stirnrunzelnd sein attraktives Gesicht mit den funkelnden, kohlschwarzen Augen, die den ihren so glichen. »Ich verstehe nicht, was soll das heißen, vor dem letzten Purgare ? Wir werden das nächste im kommenden Monat feiern und das nächste im Monat darauf!«
Mit einer Hand umfasste er ihr Kinn und blickte auf sie herab. Seine schwarzen Augen leuchteten wild und triumphierend – ein Anblick, der ihr beinahe den Atem raubte. Sie hatte ihn noch nie zuvor so sehr unter Strom gesehen. Er sah beinahe ein wenig wahnsinnig aus.
»Ich habe etwas zu verkünden, das uns alle betrifft«, murmelte er und hielt ihr Gesicht auf eine Art und Weise fest, die sie nervös machte. Die Geste hatte etwas Besitzergreifendes, mehr wie die Geste eines eifersüchtigen Liebhabers als eines Vaters. Sie wich einen Schritt
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