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Die Verraeterin

Die Verraeterin

Titel: Die Verraeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. T. Geissinger
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ihm Gefahren und unheimliche Bedrohungen verbergen – als ob es sich um eine riesige, tickende Zeitbombe handelte.
    Das Medaillon um ihren Hals zog ihre Hand magnetisch an, wie es das schon zahlreiche Male gemacht hatte, seitdem sie es angelegt hatte. Es lag kalt wie ein Stein und unheimlich an ihrer Brust und vermittelte ihr erneut dieses unruhige Gefühl, das sie vom ersten Augenblick an verspürt hatte. Noch immer hatte sie den Eindruck, dass sie etwas übersah. Sie übersah irgendeinen Hinweis, den dieses Medaillon verbarg, ein Puzzlestück, das sie nicht zu platzieren wusste. Wieder und wieder quälte es ihr Bewusstsein – so irritierend wie ein Fingernagel, der über eine Tafel kratzte.
    Der Alpha. Die Expurgari .
    Irgendwie waren sie miteinander verbunden. Aber wie? Und wie sollte sie diesen Alpha finden?
    Morgan starrte das Haus lange Zeit an, als ob sich darin die Antwort verbergen würde. Sie wusste nicht, wie lange sie so dastand. Auf den Straßen hinter dem Garten fuhren Autos vorbei. Vögel zwitscherten in den Bäumen, und das mechanische Brummen eines Rasenmähers durchbrach die morgendliche Stille. Auf einmal kam ihr ein Gedanke, und sie erstarrte, atemlos vor Schreck.
    Sie würde weder den Alpha noch die Expurgari finden. Niemals. Sie machte sich etwas vor.
    Und der Mann, den sie liebte … Dieser Mann würde sie einfach so töten.
    Der Schock schien ihrem Körper einen Stromschlag zu versetzen. Mit einem leisen Stöhnen vergrub sie ihr Gesicht in den Händen.
    Im Inneren des Hauses schlug eine Uhr und verkündete die Stunden mit tiefen, traurigen Tönen. Fünf, sechs, sieben … In der Ferne läutete eine Kirchenglocke wie der Widerhall der Uhr im Haus. Dann erklang eine weitere Glocke und noch eine und noch eine. In der ganzen Stadt verkündeten von nah und fern die Kirchenglocken die Zeit.
    Morgan richtete sich auf. Ihr Magen verkrampfte sich, während sie panisch überlegte. Langsam drehte sie sich um und blickte in die Ferne, wo sie im morgendlichen Dunst die riesige goldene Kuppel des Petersdoms wie ein Fabergé-Ei im Vatikan funkeln sehen konnte. Sie wandte sich wieder zu dem Haus hinter ihr, dessen leere Fassade all seine unterirdischen Geheimnisse verbarg.
    Unterirdisch.
    Mit einem lauten Klick passten die Puzzlestücke auf einmal ineinander.
    Obwohl sie die Energie des Alpha überall im Vatikan gespürt hatten, war es ihm gelungen, unbemerkt zu bleiben, weil er gar nicht im Dom gewesen war. Er hatte sich unter ihnen befunden, ungesehen und verborgen, so wie sie und die Jungs unter diesem Haus wohnten.
    Morgan hielt den Atem an. Sie wich einen Schritt zurück, dann noch einen. Ohne länger nachzudenken, drehte sie sich schließlich um und rannte zum Gartenzaun.

31
    Vor über zweitausend Jahren – so hieß es zumindest – wurde das erste Purgare, die erste Austreibung, in einem geheimen Ort am Ufer des Tiber abgehalten. An dieser Stelle hingen die Äste der riesigen Platanen tief ins Wasser, sodass ihre silbergrünen Blätter in den rauschenden Wellen in der Nähe der winzigen Insel mitschwammen. Dort befand sich inzwischen das Zentrum von Rom. Diese Stelle wurde nicht mehr für das Purgare benutzt, weil Rom immer größer geworden war und sich in die weiten Ebenen des Campus Martius um den Fluss ausgebreitet hatte. Inzwischen feierte man es weit nördlich der Stadt an einem stillen Ort, wo die Menschen kaum hinkamen.
    Die Örtlichkeit hatte sich geändert, aber die Zeremonie, die uralt und tiefernst war, war gleich geblieben.
    Jeden Monat wurde bei Vollmond die Asche der Halbblut-Ikati, die ihre Verwandlung nicht überlebt hatten, aus ihren kleinen Tonurnen geholt und in Behältnisse umgefüllt, die aus weißen Rohseidestreifen und goldenen Kordeln geflochten waren. Man legte grüne Äpfel auf die Asche, um den hungrigen Fährmann auf dem Weg in die Unterwelt zu bezahlen. Ein kleines Bündel grüner Spargel sollte der unglücklichen Seele Frieden bringen. Nachdem die Namen der Toten einzeln durch den Alpha des Stammes aufgerufen wurden, stellte man die Gefäße auf schmale Bretter aus Balsaholz, auf denen sich bereits Bienenwachskerzen befanden. Dann setzte man das Ganze ins Wasser, wo die kleinen Schiffchen hin und her schaukelten, umkippten oder irgendwann Feuer fingen. Mütter, Väter, Schwestern, Brüder, Cousins und Freunde sahen schweigend zu, während die brennenden Schiffchen vom ruhelosen Fluss davongetrieben wurden, bis sie mit einem Zischen und aufsteigendem Rauch von den

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