Die Verraeterin
Hals nicht mehr sehen konnte. »Ich habe ferngesehen. Dort hieß es … Jemand hat der Presse ein Video zugespielt, auf dem man sehen kann, wie die Tiere in diesem Institut misshandelt werden … Die Behörden wollen das Ganze jetzt schließen …« Sie brach ab und wartete offenbar auf eine Antwort.
Xander sagte nichts. Er hatte das Handy mit den Fotos und dem Video total vergessen, das er früh an jenem Morgen einem örtlichen Fernsehsender zugeschickt hatte. In diesem Moment konnte er sich sowieso an nichts erinnern. Er brauchte all seine Kraft und Beherrschung, um jetzt nicht durchs Zimmer zu eilen und Morgan in seine Arme zu schließen. Er wollte seine Nase in ihren Haaren vergraben, sich in ihrer Wärme, ihrem Duft und ihrer Weichheit verbergen, um wie ein Baby zu weinen, während sie ihn festhielt und ihm die Tränen wegwischte.
»Ich habe mir solche Sorgen gemacht«, murmelte sie und starrte ihn mit sanften Augen an.
Verflucht, brüllte es in ihm, und er rührte sich nicht von der Stelle. Er zwang sich zu der ausdruckslosen Miene, die er über die Jahre kultiviert hatte, und sagte: »Das Fieber ist weg, nicht wahr?«
Sie verlagerte ihr Gewicht von einem Bein auf das andere. Ihre blassen Wangen röteten sich, als sie bemerkte, wie er sie anstarrte. Dann nickte sie und sah dabei so elend aus, wie er sich fühlte. Verzweifelt biss sie sich auf die Unterlippe.
Innerlich stöhnte er vor Qual auf. Wie gerne hätte er selbst in diese Unterlippe gebissen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, und er stand eine Weile da und sah Morgan an, während er sich dazu zwang, nicht von der Stelle zu weichen. Er blieb völlig regungslos und hatte dabei das Gefühl, als zerrisse sein Herz. Doch das Fieber war verschwunden, und Morgan hatte ihn aus ihrem Schlafzimmer ausgesperrt. Sie hatten eine Vereinbarung getroffen. Außerdem war er nicht gut genug für sie.
Er musste loslassen.
Allerdings hatte er keine Ahnung, wie er das tun sollte. Denn auf einmal hatte er das Gefühl, dass es nichts Wichtigeres gab, als mit ihr zusammen zu sein.
Morgan fühlte sich offensichtlich in der angespannten Stille, die zwischen ihnen herrschte, unwohl. Nervös sagte sie: »Ich habe gestern gar nicht gehört, dass du zurückgekommen bist. Wie … wie ist es gelaufen?«
»Mateo und Tomás sind oben im Fitnessraum«, antwortete er, wobei seine Stimme vollkommen ausdruckslos klang.
»Oh, Xander«, flüsterte Morgan und entspannte sich sichtbar. »Gott sei Dank. Und … und Julian?«
Er wandte den Blick ab und fuhr sich mit der Hand über den Kopf. Es bedurfte einiger Anläufe, bis er leise antworten konnte. »Er ist tot. Wir haben ihn heute Morgen begraben.«
Ihr schockierter, leiser Schrei ließ ihn aufblicken. Morgan sank auf die Couch, die Hand vor dem Mund. Sie sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Oh mein Gott«, murmelte sie kaum hörbar hinter ihrer Hand. Ihre Augen waren riesig und dunkel. »Es tut mir so leid, Xander. Es tut mir so leid. Was … was ist passiert?«
Er wandte den Blick ab, da es ihm nicht möglich war, noch länger mit anzusehen, was sie empfand. Seine eigenen Gefühle drückten ihn bereits viel zu stark zu Boden. Es war, als hätte jemand einen Lastwagen auf seiner Brust geparkt. »Ich bin nicht rechtzeitig dagewesen. Das ist passiert. Bartleby meint, dass es eine Überdosis Telazol war, ein Beruhigungsmittel für Tiere.«
Sie gab einen weiteren Laut des Entsetzens von sich, stand auf und war mit wenigen Schritten bei ihm. Dabei streckte sie ihm die Arme entgegen, als ob sie ihn umarmen wollte.
Noch ehe sie ihn erreichte, wich er zurück. »Nicht«, sagte er hart. »Fass mich nicht an.«
Morgan blieb abrupt stehen und blinzelte verwirrt. In ihre Augen stiegen Tränen. »Es ist nicht deine Schuld, Xander«, flüsterte sie.
Der riesige Lastwagen auf seiner Brust begann zu rollen. Er schloss die Augen und holte mehrmals tief und langsam Luft. So versuchte er, ihren Duft, sein Bedürfnis nach ihr und die schreckliche, lähmende Wahrheit auszublenden, dass sie ihn in Wirklichkeit gar nicht wollte. Wenn sie ihn gewollt hätte, dann hätte sie nie ihre Tür verschlossen. Diese Reaktion … Sie war nur ein Ausdruck ihres Mitleids. Wieso hatte er das bisher nicht bemerkt?
Er tat ihr leid.
»Ich weiß, was du glaubst«, fuhr sie fort und kam einen Schritt näher. »Aber es ist nicht deine Schuld. Ich weiß, wie viel er dir bedeutet hat. Und ich weiß, dass du alles getan hast, was in deiner Macht stand, um ihm
Weitere Kostenlose Bücher