Die Verraeterin
bei dir. Finde die Expurgari , und die Ikati werden ihre Rachegelüste an jemand anderem als dir auslassen.«
Morgan sah die Königin stumm an, während die Wächter im Hintergrund bei der erneuten Berührung zwischen den beiden Frauen unruhig wurden. Zwei von ihnen eilten tatsächlich herbei und rissen Morgan an den Schultern zurück, ehe sie ihren Stuhl mindestens einen Meter vom Sessel der Königin entfernten.
Jenna sprang auf. »Das ist nicht nötig«, fauchte sie, als einer der Wächter Morgans Arme hinter ihren Rücken riss und eiskalte Handschellen um ihre Handgelenke legte.
Morgan biss die Zähne zusammen. Die Handschellen schnitten nicht nur in ihr Fleisch, sondern bedeuteten auch eine weitere Demütigung. Die Wächter zogen sie hoch und stießen dann den Stuhl mit einem Tritt zur Seite.
»Es ist der Befehl von Lord McLaughlin, Königliche Hoheit«, antwortete der größere der beiden. Morgan konnte seinen sauren Atem riechen. »Kein Kontakt außer bei der Übergabe …«
»Lasst sie sofort los, oder es kostet euch den Kopf«, gab Jenna empört zurück. Der Wächter erstarrte – vermutlich aus Wut und weniger aus Entsetzen. Es wäre für sie tatsächlich kein Problem gewesen, seinen Kopf zu fordern. Doch in einer patriarchalischen Gesellschaft, wie es die der Ikati noch immer war, war man noch nicht daran gewöhnt, dass eine Frau so viel Macht besaß. Zudem hatte sich Jenna bisher zurückgehalten. Morgan wusste, dass nur eine einzige Bestrafung reichen würde, um die Männer dazu zu bringen, sich unterwürfig und ergeben zu zeigen. Aber sie wollte nicht der Grund für weiteres Blutvergießen sein.
»Es ist schon in Ordnung«, sagte sie zu Jenna durch zusammengebissene Zähne. »Du hast genug getan. Bitte, du hast wirklich genug getan.« Ihr Blick wanderte zu dem kleineren der beiden Wächter, der sanfte Augen hatte und im Gegensatz zu seinem Kollegen besorgt wirkte. »Wir sind so weit. Ich bin bereit.«
Er nickte und legte seine Hand, die in einem Handschuh steckte, auf ihren Oberarm. Es war offensichtlich, dass er sich so weit wie möglich von ihr entfernt hielt, um nicht in ihren Bann gezogen zu werden.
»Morgan.« Jenna trat ihr mit einer ausgestreckten Hand entgegen, aber die zwei Wächter begannen bereits, Morgan wegzuführen. Sie trug noch immer die gleichen silbernen Sandalen und das schwarze Kleid vom Vortag. Der Stoff war inzwischen zerknittert, weil sie darin geschlafen hatte. Die anderen Wächter traten zu ihnen, um Morgan in einem Kreis zu umgeben und sie dann als Gefangene zur Tür zu führen.
»Ich komme zurück«, sagte Morgan über die Schultern der Männer hinweg. Ihre Stimme klang nicht besonders entschlossen oder sicher. Sie sah die einsame Gestalt von Jenna, die zwischen den hohen Palmen und den Vogelbauern stand, das helle Haar und die helle Haut so leuchtend wie Schnee vor grauen, verregneten Fenstern. »Ich werde alles wieder gut machen. Ich verspreche es«, fügte Morgan hinzu, als sie die Tür erreichten.
»Viel Glück!«, rief Jenna. Doch in dem schwermütigen Unterton, der in ihrer sanften Stimme mitschwang, las Morgan den Abschied heraus und wusste, was »Viel Glück« wirklich bedeutete.
Es bedeutete »Auf Wiedersehen«.
Der Wächter mit dem sauren Atem – sein Name war Matthew – klopfte an die geschnitzte Eichentür der Ostbibliothek. Irgendwie schien er zu glauben, das Sagen zu haben, obwohl Morgan und die anderen Wächter wussten, dass er keinen Rang hatte und der am wenigsten Begabte der Gruppe war. Sein einziger Vorteil war seine ungehobelte Stärke, die er eifrig einsetzte, um sie durch die totenstillen Gänge des Herrenhauses zu zerren und am Ellbogen zu reißen, sobald sie langsamer wurde oder über einen der dicken Teppiche stolperte.
Sie kannte Matthew bereits ihr ganzes Leben lang, wie sie alle in der Kolonie seit dem Tag ihrer Geburt kannte. Sie war hier gewesen, als seine Mutter seine neugeborene Schwester – winzig, wimmernd und deformiert – in den schwarzen Abgrund des Todesbrunnens geworfen und sich dann abgewandt hatte, ohne auch nur eine einzige Träne zu vergießen. Morgan war damals noch ein Kind gewesen und hatte sich in der Gruppe der ernsten Erwachsenen, die sich am Todesbrunnen versammelt hatte, gefürchtet. Sie hatte die Hand ihres Vaters gedrückt und war zugleich stolz gewesen, dass mit ihr alles stimmte und sie keine Behinderung oder Schwäche hatte, die ihre Leute dazu gebracht hätten, sie zu verstoßen, die ihre Mutter dazu
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