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Die Verraeterin

Die Verraeterin

Titel: Die Verraeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. T. Geissinger
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gezwungen hätte, an diesen schrecklichen Ort zu kommen oder mit dem Tod bedroht zu werden, wenn sie es nicht tat.
    Zu jenem Zeitpunkt war ihre Mutter allerdings bereits tot gewesen, und Morgan hatte keine Schwäche.
    Jedenfalls keine Schwäche, die für jeden sofort sichtbar war.
    Sie erinnerte sich noch an ein anderes Erlebnis mit Matthew. Eines Winters, als der Schnee kniehoch lag, hatte er sie gemeinsam mit zwei dunkeläugigen Freunden im Schatten einer zwölfhundert Jahre alten Eibe am Abend vor der Sonnenwende beobachtet. Sie war damals fünfzehn gewesen und hatte kurz davor gestanden, sich zum ersten Mal zu verwandeln. Erst wenige Monate zuvor war ihr aufgefallen, dass sie anders als die anderen Mädchen war. Sie interessierte sich nicht für Jungen, Hochzeiten und das Gerede darüber, was geschah, nachdem der Heiratsvermittler und der Hüter der Geschlechter den passenden Partner gefunden hatten und es einem gestattet war, miteinander allein zu sein. Das ganze Gekicher und Geflüster ekelte sie an.
    Morgan lief stattdessen gerne alleine durch die Wälder und Felder und irrte auch an diesem Abend fern des großen Holzfeuers und des Tanzes auf dem Marktplatz der Stadt dahin. Wie so oft befand sie sich in der dunklen Kathedrale aus Bäumen, wo absolute Stille herrschte. Die Jungen schlichen leise von hinten an sie heran, als sie gerade die perfekte Form eines Pinienzapfens bewunderte, der an einem verschneiten Ast hing. Sie schlugen ihr von hinten eine Schaufel in den Rücken, sodass sie zu Boden fiel. Ihr blieb keine Zeit, um wegzulaufen oder auch nur, um wieder auf die Füße zu kommen, ehe sie an ihren Kleidern rissen, sie schlugen und sich selbst lachend und grölend anfeuerten – ganz die jungen Wilden, die sie waren.
    Morgan hatte eine Waffe bei sich. Einen scharfen Brieföffner, der eine Klinge auf beiden Seiten besaß und den sie vom Schreibtisch ihres Vaters gestohlen hatte.
    Sie war vielleicht anders, aber sie war nicht dumm. Ihr war aufgefallen, dass die Jungen sie beobachtet hatten.
    Danach ließen Matthew und seine beiden Freunde sie für immer in Ruhe. Einer der Jungen musste für den Rest seines Lebens eine Augenklappe tragen, um das Loch in seinem Schädel zu verdecken. Jetzt stand sie hinter ihm, umrundet von dem Trupp der Wächter, und starrte auf seinen Hinterkopf. Sie wünschte sich, die bisher unbekannte Gabe zu haben, den Schädel des Feindes durch einen Blick explodieren lassen zu können.
    »Herein!«, rief Leander hinter der geschlossenen Tür. Matthew stieß sie auf. Es reichte ihm nicht, den Raum zu betreten und Morgan folgen zu lassen, sondern er musste sich umdrehen, sie am Arm packen und über die Schwelle zerren. Dann ließ er sie abrupt los, als ob er durch die Berührung mit ihr verbrannt worden wäre.
    Natürlich stürzte sie zu Boden. Das war seine Absicht gewesen.
    Der Saum ihres Kleids verfing sich an einem der Absätze ihrer Schuhe, als sie sich wieder erheben wollte. Der zarte Stoff riss mit einem lauten Geräusch, und sie stürzte erneut nach vorn, wobei sie nicht die Arme ausstrecken konnte, um sich abzufangen, da diese noch immer hinter ihrem Rücken gefesselt waren. Sie schlug mit den Knien so heftig auf den kalten Marmorboden auf, dass sie vor Schreck einen Schmerzensschrei ausstieß. Doch ehe sie nach vorne auf ihr Gesicht fiel, wurde sie aufgehalten.
    Zwei Hände packten sie. Stark und warm an ihren Schultern.
    Jemand hielt sie fest und hob sie sanft auf ihre Knie, wo sie hin und her wippte, bis sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Dann hob sie den Kopf und blickte auf …
    … in zwei leuchtend bernsteinfarbene Augen, die von schwarzen Wimpern umrahmt waren. Das dazugehörige Gesicht war sonnenverbrannt und zeichnete sich durch eine solch wilde, klare Schönheit aus, dass sich bei diesem Anblick vor Angst jeder Nerv in ihrem Körper anspannte. Adrenalin schoss durch ihre Blutbahnen, und das Tier in ihrem Inneren erwachte. Es stellte die Nackenhaare auf, fauchte und schien mit voller Lautstärke »Gefahr!« zu rufen.
    Er war riesig – hoch gewachsen und muskulös, viel größer als alle anderen ihrer geschmeidigen, sehnigen Spezies. Seine Schultern waren so breit, dass Morgan in seinem Schatten kniete, den er auf sie warf. Seine schwarzen Haare, die auf seiner breiten Stirn spitz zusammenliefen, waren kurz geschnitten. Auch seine Kleidung war schwarz, schlicht und eng anliegend, geeignet für rasche Bewegungen. Auf seinem Rücken befanden sich zwei gekreuzte

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