Die Verraeterin
hoch war, und aus aufeinandergebauten Arkaden bestand. Sie hatte die Länge eines Fußballfelds, und überall befanden sich Vertiefungen, wo früher einmal die gewaltigen Statuen von Göttern und Kaisern gestanden hatten. Jetzt starrten diese dunklen Aushöhlungen wie tote Augen auf die Stadt herab.
»Da!«, erklärte sie dem Fahrer aufgeregt und zeigte durch das offene Fenster. Er musterte sie im Rückspiegel. Es war ein untersetzter, grauhaariger Mann, der völlig nichtssagend aussah. Nur seine Augen erinnerten an dunkle, flüssige Schokolade, und Morgan konnte in ihnen die Erinnerungen an den jungen Mann erkennen, der er einmal gewesen war.
»Dove?«, fragte er, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen. Er zog die zwei Silben sinnlich in die Länge, und auch seine Stimme erinnerte an die eines jungen Mannes. Im Grunde war er Morgan gar nicht unsympathisch.
»Kolosseum«, erwiderte sie hoffnungsvoll. Das Wort musste doch in jeder Sprache dasselbe sein.
»È chiuso.« Er machte eine Geste mit der Hand, wodurch der hellgraue Rauch seiner Zigarette, die er nun zwischen den Fingern hielt, in kleinen Ringen durchs Fenster forttanzte. »Tour fermano alle cinque.«
Morgan erkannte nur ein Wort dieser lässigen Erwiderung, und das war chiuso : geschlossen. »Kein Problem.« Sie zeigte ihm das internationale Zeichen für Zustimmung und streckte beide Daumen nach oben. »Bitte – per favore – bringen Sie mich zum Kolosseum.«
Er zuckte mit den Achseln und bahnte sich weiterhin einen Weg durch den chaotischen Abendverkehr. Mehrere Male schien er es gerade noch zu schaffen, nicht einen der dutzenden von Vespa-Fahrern zu treffen, die in höchster Geschwindigkeit an dem Taxi vorbeirasten. Sie bogen in die Villa dei Fori Imperali ein, und Morgan sah zu, wie das gewaltige Gebäude, das vor beinahe zweitausend Jahren im Herzen der Stadt errichtet worden war, immer näher kam. Schließlich blieb das Taxi am Bordstein stehen, was zu einem empörten Hupkonzert und lauten Rufen von den Autos hinter ihnen führte.
»Grazie«, sagte Morgan und benutzte damit eines der wenigen italienischen Worte, das sie außer »Bitte« noch kannte. Sie beugte sich nach vorn, berührte den Fahrer an der Schulter, und ihre Blicke trafen sich im Rückspiegel. »Grazie«, wiederholte sie mit sanfter Stimme. Er nickte langsam, und sie stieg mit einem Lächeln aus. Zurück blieb ein Mann, der glaubte, für die Fahrt bezahlt und zudem großzügig mit einem Trinkgeld versehen worden zu sein.
Obwohl die riesigen Eisentore, die dreimal so hoch wie ein Mensch sein mussten, zugesperrt waren, schlenderten noch immer Grüppchen von Leuten über die Rasenflächen um das Kolosseum. Sie redeten, lachten, rauchten und fotografierten. Auch Morgan fühlte sich auf einmal wie eine Touristin, beeindruckt und verwundert. Neugierig reckte sie den Hals, um nach oben zu sehen. Bisher war es ihr erst einmal in ihrem Leben gestattet gewesen, Sommerley zu verlassen, und das war für eine Reise mit Leander nach Los Angeles gewesen. Die amerikanische Stadt wurde jedoch von so einer grundsätzlich anderen Atmosphäre als Rom beherrscht, dass ein Vergleich dieser beiden Metropolen so sinnlos gewesen wäre wie ein Vergleich zwischen Feuer und Wasser.
Rom. Mein Gott, Rom.
Selbst die Luft war hier anders – warm, sanft und voller Leben. Man hörte Vogelgezwitscher und lautes Hupen, Gelächter und Gesang. Überall schien es nach frisch gebackenem Brot und sonnenwarmen Steinen zu riechen. Ein untersetzter Mann mit einer Brille und einem Mund, der an eine getrocknete Pflaume erinnerte, trat zu ihr und sagte etwas auf Japanisch. Dabei zeigte er auf seine Kamera und seine winzige, lächelnde Frau, die ein paar Meter entfernt neben einer niedrigen Mauer stand.
»Oh, natürlich«, sagte sie. »Ja, mache ich.« Erst als sie die Kamera in Händen hielt, wurde ihr bewusst, dass sie noch nie zuvor in ihrem Leben so einen Apparat gehalten, geschweige denn bedient hatte. Ihre Verwirrung wurde schnell offensichtlich, und der Mann wies sie in gebrochenem English mit sanften Worten an, wie man die Tiefenschärfe einstellte und welcher Knopf zu drücken war.
Als sie das Foto gemacht hatte, strahlten sie Morgan an, verbeugten sich und schüttelten ihre Hand. Morgan erlebte ein Gefühl, das ihr so unvertraut und seltsam erschien, dass sie einen Moment brauchte, um es zu identifizieren. Es war etwas wie Optimismus, nur stärker – eine Mischung aus heiterem Selbstbewusstsein, Wohlwollen
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