Die Verraeterin
als ob er unerwartet von einem Sandsturm überrascht worden wäre. Eine feine Schicht aus hellgelbem Staub überzog seine Kleidung und seine Haut und ließ sogar seine rabenschwarzen Haare etwas weniger schimmern als gewöhnlich. Morgan gab es zwar nur sehr ungern zu, aber selbst so schmutzig und wütend war Xander der atemberaubendste Mann, dem sie jemals über den Weg gelaufen war.
In einem Ton, der ausgesprochen drohend klang, sagte er jetzt: »An Ihrer Stelle würde ich das nicht tun.«
»Nun, offensichtlich sind Sie aber nicht ich. Ich habe vor, genau das zu tun. Ich gehe da jetzt hinunter.«
»Nein«, widersprach er entschlossen. »Das tun Sie nicht.«
Morgan strich sich die Haare, die der Wind erneut in ihre Augen geweht hatte, aus dem Gesicht und funkelte Xander wutentbrannt an. »Ich frage nicht um Erlaubnis!«
»Und ich mache hier keinen Vorschlag. Sie gehen nirgendwohin außer diese Treppe hinunter.« Mit dem Kopf wies er auf die breiten Steinstufen, die zu den unteren Ebenen und der Straße hinabführten. »Und dann zurück zum Hotel. Und zwar mit mir. Sofort.«
Er hatte nichts in den Händen, sondern hielt sie offen vor sie hin. Die Beine hatte er leicht gespreizt, die Knie angewinkelt, und sein Gewicht lagerte auf seinen Fußballen. Es war eine Einladung zum Kampf. Sie erkannte sie aus den vielen Jahren des Fechtens, zu denen sie ihr Vater gezwungen hatte. Dessen archaische Vorstellung von Frauen wurde vermutlich nur von der dieses verkrusteten Spartaners übertroffen, der sie jetzt finster anblickte.
»Mir war nicht klar, dass Leander Sie mitgeschickt hat, damit Sie mich zu Tode ärgern.«
Er lächelte grimmig und ohne den Anflug von Wärme oder Humor, ehe er ihr in dem bedrohlichsten Tonfall antwortete, den sie jemals gehört hatte, wobei er so sanft wie Seide klang. »Solange es funktioniert.«
»Oh. Oh. Oh.« Das Blut, das ihr in die Wangen schoss, breitete sich rasch über ihren Hals aus und pochte laut in ihren Ohren. Sie fühlte sich gedemütigt und unsicher, auf eine Weise bloßgestellt, die sie noch nie erlebt hatte. Zweifelsohne hatte er genau das beabsichtigt.
Er darf es auf keinen Fall merken. Er darf es nicht merken!
»Sie können von Glück reden, dass Sie mir ein Halsband umgelegt haben.« Ihre Stimme klang ruhig, ihr Gesicht strahlte Gelassenheit aus. Doch in ihrem Inneren tobte ein Sturm der Gefühle. Das Bedürfnis, sich zu verwandeln, fraß sich wie Säure durch ihr Blut, doch dieser verdammte Ring um ihren Hals hielt sie davon ab. Der Ring, den er dort angebracht hatte. Sie neigte den Kopf zur Seite und musterte Xander von oben bis unten. Langsam und ausdruckslos. »Aber ich wette, dass …«
»Was?«, wollte er wissen. Seine Finger zuckten.
Sie lächelte ihn lieblich an. »Ich wette, dass ich trotzdem schneller als Sie bin.«
Es dauerte einen Herzschlag, ehe er die Herausforderung verstand. Dann veränderte sich seine Miene, und aus der Verachtung wurde etwas Leidenschaftlicheres. Fast schien er neugierig zu sein. »Denken Sie nicht einmal daran …«
Doch noch ehe er seinen Satz beenden konnte, drehte sich Morgan um, machte zwei lange Sätze und sprang von der höchsten Mauer des Kolosseums in den leeren Raum darunter.
8
Als sie fünfzehn Jahre alt war, hatte sich Morgan zum ersten Mal verwandelt.
Die Anzeichen waren bereits Jahre zuvor zu merken gewesen. Ein kurzer, stechender Schmerz in den Knochen, ein unerwartet ausgeprägter Geruchssinn und ein besseres Gehör. Alle Ikati besaßen von Geburt an schärfere Sinne als die Menschen, aber plötzlich war Morgan in der Lage, einen Vogel im Flug riechen zu können, der viele Kilometer entfernt war. Allein der Geruch sagte ihr, ob es sich um einen Falken oder einen Star handelte. Genauso unerwartet war ihre Fähigkeit, jeden Tautropfen auf jedem Grashalm des Rasens vor dem Fenster ihres Zimmers im ersten Stock sehen zu können. Sie hörte, wie die Tannen surrten, wenn sie wuchsen, sie schmeckte den Regen schon Tage, ehe er vom Himmel fiel, und sie spürte, wie sich die Erde unter ihr drehte. Die ganze Natur rückte auf einmal in ihr Blickfeld und das mit einer Klarheit, die atemberaubend war. Morgan befand sich im Zentrum dieser Wahrnehmungen, ein Sammelpunkt höchsten Bewusstseins.
Am Morgen ihres fünfzehnten Geburtstags verwandelte sie sich schließlich in einen Panther und stellte dabei fest, dass sie nicht nur unglaubliche Kraft, höchste Beweglichkeit und scharfe Sinne besaß, sondern nun auch sehr schnell
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