Die Verraeterin
und süßer Vorfreude.
Hoffnung. Sie spürte Hoffnung.
Das japanische Paar dankte ihr ein letztes Mal und ging dann weiter. Morgan blieb verblüfft und allein zurück. Diese neue Knospe, die sie einen Moment lang in sich hatte aufblühen spüren, würde nicht lange überdauern. Das wusste sie instinktiv.
Und du auch nicht , flüsterte eine leise Stimme in ihrem Inneren, wenn du nicht endlich loslegst .
Sie starrte auf das riesige Steingebäude vor sich, das noch immer golden in der Abendsonne schimmerte.
Nur ein Blick ins Innere, beschloss sie, würde reichen, um ihre Sehnsucht nach ein bisschen normalem Leben für den Moment zufriedenzustellen. Höchstwahrscheinlich würde sie nie mehr die Gelegenheit bekommen, das Kolosseum zu besuchen. Danach wollte sie sich überlegen, wo sie mit ihrer Suche beginnen sollte.
Morgan schlenderte gemächlich über den Rasen vor dem Kolosseum und um die Eingrenzung aus Kopfsteinpflaster, die sich direkt vor dem Gebäude befand. Sie fragte sich, ob es keine Möglichkeit gab, trotz der geschlossenen Eisentore ins Innere zu gelangen. Sie konnte einfach bis an das Kolosseum herantreten und es berühren. Das tat sie auch. Vorsichtig strich sie mit den Fingern über die Risse und den rauen, warmen Stein, über ein kleines, ausgebleichtes, schwarz-graues Graffito an der inneren Rundung einer anmutigen ionischen Säule. Offenbar hatte es derjenige, der damit beauftragt war, die Graffitizeichnungen zu entfernen, übersehen. Dann ging sie weiter und stellte schon bald befriedigt fest, dass sie allein und unbeobachtet war – im Grunde frei. Sie befand sich in einem fremden Land, was noch vor zwei Monaten völlig unvorstellbar gewesen wäre. Sie hätte nicht einmal gewagt, von so etwas zu träumen.
Das vergnügte Grinsen, das über ihre Lippen huschte, war nicht zu unterdrücken. Was würde Xander wohl tun, wenn er feststellte, dass sie verschwunden war? Sie hoffte inbrünstig, dass ihn der Schlag träfe.
Als sie um eine weitere Kurve trat, wo die äußere Fassade des Kolosseums plötzlich aufhörte und nur noch die niedrigeren inneren Mauern des Amphitheaters übrig blieben, blieb Morgan stehen und sah sich um. Hier hielten sich kaum noch Touristen auf. Nur eine Gruppe Teenager saß im Schneidersitz etwa fünfzig Meter von ihr entfernt in einem Halbkreis unter den Ästen einer alten Pinie. Die Jugendlichen rauchten etwas, das süß und beißend und gar nicht nach Tabak roch. Ein Junge begann zu kichern und stieß einen anderen gegen die Schulter, ehe beide vor Lachen zu Boden gingen.
Morgan bezweifelte, dass sie irgendetwas von dem mitbekommen würden, was sie zu tun beabsichtigte.
Sie zog die hochhackigen Riemchenschuhe aus und stellte sie in eine Ecke, auch wenn ihr der Gedanke gar nicht gefiel, ihre Lieblingssandalen von Chanel mitten im Freien stehen zu lassen. Mit einem letzten verstohlenen Blick griff sie nach den Eisenstangen der Gittertore, sah nach oben und begann zu klettern.
Mit einer Mischung aus Zorn, Fassungslosigkeit und der seltsamen, flüchtigen Bewunderung, die Xander bereits im Hotel verspürt hatte, als sie es – beinahe – geschafft hatte, den Portier dazu zu bringen, sein Mittagessen auf ihn zu spucken, beobachtete er jetzt, wie die geschmeidige Gestalt Morgans die äußere Fassade des Kolosseums einer Spinne gleich hinaufkletterte.
Es gab Hunderte von Leuten, die sich in Rufweite befanden, und Hunderte weitere, die durch den Abendverkehr auf dem Boulevard neben dem Kolosseum kurvten. Jeder konnte sie sehen. Man musste nur nach oben schauen und würde diese langen, nackten Beine, die dunklen Haare, die ihr über den Rücken fielen, sowie die weiße Bluse entdecken, die vor dem Hintergrund des Steins auffallend hell leuchtete.
Was hatte sie vor? Dachte sie überhaupt nach? Wenn irgendeiner der Touristen in der Nähe jetzt ein Foto von ihr machen würde – oder noch schlimmer, ein Video –, dann würden sie beide mit dem Leben dafür bezahlen.
Er hatte erlebt, dass man einen Ikati für ein weniger schlimmes Vergehen hinrichtete.
Geheimhaltung. Verschwiegenheit. Loyalität. Diese drei Grundsätze galten für alle, für wirklich alle Ikati seit Anbeginn der Zeiten. Nur durch das Einhalten dieser Grundsätze war es ihnen bisher gelungen, nicht ausgelöscht zu werden und meist unentdeckt zu bleiben. Offensichtlich hatte Morgan alle drei für sich abgehakt.
Zum dritten Mal, seitdem Xander Morgan acht Stunden zuvor kennengelernt hatte, fühlte er sich
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