Die Verraeterin
seltsamen Gefühlen ausgesetzt. Sie reichten von Wut über Belustigung bis zu Verblüffung und noch mehr. Alle diese Empfindungen kämpften gleichzeitig um seine Aufmerksamkeit. Seit beinahe zwanzig Jahren hatte er so etwas nicht mehr erlebt. Damals war er sechzehn gewesen und hatte sich in einer so schrecklichen Krise befunden, dass es ihm nie möglich war, darüber zu sprechen.
Er verließ sein Versteck hinter einer Reihe von Zypressen und rannte mit langen, lautlosen Schritten bis zu jener Stelle an der Mauer, wo sich keine Touristen befanden. Dort presste er sich mit dem Körper gegen den Stein. Er atmete aus, wich ein wenig zurück und verschwand dann in den warmen, rauen Quadern.
»Wow.«
Es gab kein anderes Wort, das in diesem Moment passender gewesen wäre.
Morgan stand mit nackten Füßen auf der obersten Ebene des Kolosseums und blickte dorthin, wo sich früher einmal der Sandboden der Arena befunden hatte. Dieser Boden war schon vor langer Zeit entfernt worden, und es gab nur noch eine Stelle, wo man ihn neu errichtet hatte. Jetzt sah man die Strukturen darunter, ein zweistöckiges Netzwerk aus Tunneln und unterirdischen Kammern, die sich im Licht der Sterne am Himmel über ihr verloren.
Eine warme Brise spielte um ihren Körper und blies ihr die Haare in die Augen. Sie sehnte sich danach, die steinige Erde und die grünen Grasbüschel unter ihren Füßen auch mit den Händen zu spüren, und ging deshalb in die Hocke, um auf die nächste Ebene der abgenutzten Steinsitze zu springen. Doch in diesem Moment vernahm sie eine leise, feindselige Stimme.
»Was zum Teufel glauben Sie eigentlich, was Sie da tun?«
Sie erstarrte. Einen kurzen, schrecklichen Moment lang sah sie sich wieder im Gefängnis – diesmal einem menschlichen Gefängnis –, weggesperrt, da sie es gewagt hatte, in ein historisches Gebäude einzudringen. Doch als sie sich umdrehte, sah sie sich Xander und nicht den Carabinieri gegenüber, die für ihren unsanften Umgang berüchtigt waren.
Morgan wusste nicht, was schlimmer war: Xander oder die Polizei.
»Was glauben Sie wohl, was ich hier tue, Sie Genie?«, entgegnete sie kalt und drückte den Rücken durch. »Wofür bin ich denn hierhergekommen? Um nach den Expurgari zu suchen.«
»Wirklich?«, erwiderte er ebenso kalt. Er musterte sie aufmerksam und schürzte dann die Lippen. »Mir scheint das eher eine Besichtigungstour zu sein und keine Suche.«
»Können Sie Gedanken lesen?«, fuhr sie ihn an und verschränkte die Arme vor der Brust.
Seine geschürzten Lippen verwandelten sich allmählich in ein verächtliches Grinsen, und am liebsten hätte sie ihm mitten ins Gesicht geschlagen, um diesen selbstgefälligen Ausdruck nicht länger sehen zu müssen.
»Man muss kein Genie sein, um das zu wissen«, sagte er mit einer Stimme, die kaum sarkastischer hätte sein können. »Sie hyperventilieren ja geradezu vor Aufregung.« Er betonte das Wort Genie gerade so viel, dass sie ihm am liebsten eine Ohrfeige dafür verpasst hätte.
Dieses selbstgefällige Arschloch. Von Hyperventilieren konnte überhaupt nicht die Rede sein.
»Und übrigens«, fuhr er fort, ehe sie etwas entgegnen konnte, »sollten wir eines ein für alle Mal klarstellen. Sie müssen mich um Erlaubnis bitten – und zwar freundlich, was für Sie eine ganz schöne Herausforderung bedeuten wird –, wenn Sie das Hotel verlassen wollen. Und falls ich diese Erlaubnis gebe, dann nur unter der Bedingung, dass ich Sie begleite. Ich muss die ganze Zeit genau wissen, wo Sie sich aufhalten. In Zukunft werden Sie also nirgendwo mehr hingehen, ohne mich vorher zu fragen. Haben Sie mich verstanden?«
Morgan hatte schon oft gehört, wenn jemand davon sprach, dass sein Blut in Wallung geraten war. Doch erst jetzt verstand sie ganz und gar, was dieser Ausdruck bedeutete. Durch ihre Adern raste ein loderndes Feuer, das sie von innen her zu verbrennen schien.
»Ich werde Sie niemals wegen irgendetwas um Erlaubnis bitten«, antwortete sie, wobei sie jedes Wort einzeln und deutlich betonte. »Aber ich setze Sie jetzt davon in Kenntnis, dass ich vorhabe, dort hinunterzuklettern.« Sie zeigte auf den inzwischen in völliger Dunkelheit liegenden Boden des Kolosseums. »Um mich dort umzuschauen.«
Xander trat aus dem Schatten auf sie zu. Er näherte sich ihr nur ein wenig, und doch schienen seine bernsteinfarbenen Augen wie glühende Kohle in seinem markant geschnittenen Gesicht zu funkeln. Er war ganz in Schwarz gekleidet und sah so aus,
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