Die verratene Nacht
harte Gesichtsausdruck legte sich wieder auf seine Züge, als er aufstand. „Wir haben ihn neulich nicht weit von hier im Keller von einem alten Haus gefunden. Er...“, er zögerte. „Er gehört jemandem, den wir kennen. Ist sie hier?“
Selena schüttelte den Kopf. „Nur wenn ihr Name Gloria ist und sie gerade an Krebs stirbt.“
„Nein, ihr Name ist Remy. Sie hat schwarze Haare und Augen von dem unglaublichsten Blau, das man je gesehen hat“, antwortete Elliott. „Vielleicht Anfang dreißig? Sehr auffallend.“
Selena hielt inne und schaute ihn an. Sie hatte mal jemanden namens Remy gekannt. Ein Mädchen, schon eine lange, lange Zeit her – vielleicht schon an die zwanzig Jahre. Ihr Großvater lag im Sterben und Selena war ihnen nur per Zufall begegnet, in einem kleinen Haus, weitab von jeder anderen Siedlung. Sie hatte diesen Zwischenfall nie vergessen.
Der Mann war von der Erscheinung her gealtert, und auch den Jahren nach. Er schien so ausgemergelt und trocken wie ein alter Zweig, der jederzeit von einer Brise davongeweht werden konnte, vor Kummer in sich selbst zusammengeschrumpelt. Seine blauen Augen waren stumpf und voll von Trauer, und er sprach sehr wenig, aber meistens gar nicht. Seine Haare waren weiß, mit nur ein paar Fäden Grau darin. Seine Hand hielt etwas umklammert und ließ es nicht los, selbst als der Schmerz machte, dass er die Augen bis weit nach hinten verdrehte und sein Körper unter den Beschwerden erzitterte.
Er war furchteinflößend und doch erbarmungswürdig in seiner Verzweiflung. Selena spürte in dem Mann eine große Müdigkeit und Angst, und in jedem seiner Atemzüge schwang eine große, abgrundtiefe Furcht mit. Es war, als ob er an weit mehr als körperlicher Pein litt.
Er war einer, der den Tod bekämpfte, der sich so lange fernhielt, wie er konnte – gegen das Unabänderliche ankämpfte, kämpfte, schrie und stöhnte. Er hatte panische Angst vor dem, was kommen würde. Aber er hatte auch, wurde ihr klar, panische Angst vor dem Leben.
Zwei Tage verbrachte sie mit ihm, versuchte ihm den Weg einfacher zu machen. Kein Begleiter kam, um ihm zu helfen. Niemand versammelte sich in der Ecke, um ihm nach drüben rüber zu helfen. Schließlich öffnete er die umwölkten Augen und fragte nach dem Mädchen. Die silbrige Wolke war blau geworden.
Das Mädchen, ein Teenager, kam und setzte sich zu ihm, hielt die Hand des betagten Mannes.
„Es ist Zeit für mich zu gehen“, flüsterte er.
„Ich weiß, Großvater. Ich liebe dich.“
„Ich liebe ... dich auch.“ Er schien seine Kraft zusammenzunehmen und seine Stimme wurde kräftiger. „Nimm das“, sagte er, als er seine Hand über der ihren öffnete und etwas dort hinein drückte. „Bewahre es sicher auf. Beschütze es mit deinem Leben.“
„Was ist das?“
Er schloss die Augen. „Das ist der Schlüssel. Du wirst wissen, was du damit tun musst, wenn ... die Zeit gekommen ist.“
Das Mädchen öffnete die Hand, aber Selena konnte nicht erkennen, was sie darin hielt. „Ein Schlüssel? Ich verstehe nicht.“
„Denk an alles, was ich dir gesagt habe“, sagte er. Ein großes Zittern versetzte seinen Körper in höchste Pein. Es dauerte lang, bis er wieder sprach. „Ich habe ein so großes Unrecht begangen. So viele Leben...“ Eine Träne rann ihm über die Wange und er verschluckte sich fast beim Versuch Atem zu holen.
Selena eilte an seine Seite, als die Wolke sich schneller drehte. Sie bedeckte seine Hand mit der ihren und fühlte die Kälte unter seiner Haut. Es war Zeit.
Aber er schaute das Mädchen an und sie, mit den strahlendsten blauen Augen, die Selena je gesehen hatte, schaute auch ihn an.
„Du bist ... die einzige Hoffnung ... es zu verändern“, flüsterte er. „Versteck dich, Remy. Lass sie dich nicht finden. Lass ... sie dich ... nicht ... finden.“
Selena spürte seinen letzten, schaudernden Atemzug, als das Leben aus dem Körper entwich – abrupt, rau, jäh schleuderte es finstere, qualvolle Erinnerungen durch ihren Kopf hindurch. Als sie wieder zu dem Mädchen schaute, brannten Entschlossenheit und Trauer in dessen Augen.
„Hast du sie gesehen?“, fragte der Mann namens Wyatt und riss damit Selena wieder in die Gegenwart zurück. Er fragte nach Remy.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“
„Wo ist Theo? Und Lou?“, sagte Elliott.
Ein leeres Gefühl wühlte sie da innerlich auf. Ich wünschte, ich wüsste es. „Sie sind vor ein paar Tagen zu einer Tour aufgebrochen. Ich bin nicht
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