Die Verratenen
nicht die sein, die am längsten pausiert. »Der Gedanke liegt doch nahe, oder? Lügen, in offizielle Dokumente verpackt. Wer von uns hätte das überprüfen können? Dass es nicht die Prims waren, die angegriffen haben, sondern wir?«
»Das habe ich mir auch schon überlegt.«
In einem plötzlichen Entschluss schiebe ich den Ärmel meiner Thermojacke ein Stück hoch, gerade weit genug, dass man den Salvator sehen kann. Dann rufe ich die Nachricht von letzter Nacht auf. »Hier haben wir jedenfalls eine Lüge. Schriftlich sogar. Wir sind tot und wurden begraben, ich wette, ein Clan wütender Prims hat uns um die Ecke gebracht.«
Aureljo nimmt meinen Arm und zieht ihn näher zu sich. Er starrt auf die Botschaft. Sein Griff wird fester, tut weh.
»Lass los, bevor es auffällt«, sage ich leise.
Er tut, worum ich ihn bitte, und eine Sekunde lang denke ich, dass er gleich zu weinen beginnen wird. Wie ich letzte Nacht. Für ihn muss es noch schlimmer sein, er war die Nummer 1, jetzt ist er für die Sphären nur noch Asche.
Wir nehmen unsere Schaufeln und machen uns wieder daran, Boden freizulegen. Ein Quadratmeter, noch ein Quadratmeter. Hier wird etwas wachsen, denke ich bei jedem Stück Erde, das sichtbar wird. Und hier und hier und hier.
»Wenn sie uns verbrannt haben«, murmelt Aureljo nach einer Weile, »und wir wieder auftauchen, können sie uns nicht mehr so leicht beseitigen. Sie müssten sich eine wirklich gute Geschichte einfallen lassen, um nicht als Lügner dazustehen.«
Das, denke ich, wäre wahrscheinlich die Art Aufgabe gewesen, mit der ich später einmal betraut worden wäre, wenn mein Weg wie geplant verlaufen wäre.
»Aber töten müssten sie uns«, sage ich. »Wir wissen zu viel. Die Sentinel in der Magnetbahn lassen sich nicht wegreden, die waren da. Wenn wir wieder auftauchen, muss der Sphärenbund alles tun, um uns daran zu hindern, den Mund aufzumachen.«
Mit mehr Kraft als nötig stößt Aureljo seine Schaufel in den Schnee. »Es wird immer schwieriger für den Bund. In den anderen Sphären hat man sicher von unserem Tod erfahren, dort weiß also niemand, dass wir noch gejagt werden. Ich bleibe dabei, Ria: Wenn wir eine fremde Sphäre erreichen …« Die Idee packt ihn so sehr, dass er aufhört zu schaufeln. »Wir könnten uns in den Generatorenkellern verstecken und einen guten Moment abwarten, um dem Sphärenmeister unsere Geschichte zu erzählen, und am besten nicht nur ihm – je mehr Leute erfahren, was passiert ist, desto eher muss der Sphärenbund Stellung beziehen. Wir hätten eine echte Chance herauszufinden, warum uns das angetan wurde.«
»Unmöglich. Sie fangen dich schon am Eingang ab und identifizieren dich anhand des Salvators. Du könntest ihn natürlich abnehmen, aber dann halten sie dich vermutlich für einen Prim und jagen dich fort.« Oder Schlimmeres.
Aureljo nickt abwesend. Dieses Gesicht kenne ich nur zu gut, jetzt ist er erst mal nicht mehr ansprechbar. Ein Unmöglich lässt er nicht gelten.
Weiterschaufeln. Ein Quadratmeter, noch einer.
Irgendwann höre ich einen lang gezogenen, schrillen Schrei über mir. Alarmiert schaue ich zum Himmel, die Sonne leuchtet nun cremig gelb hinter einem zarten Nebelschleier. Davor zieht ein Vogel seine Kreise, mit ausgebreiteten Schwingen, lässt sich von den Luftströmen tragen.
Ein Falke. Kelvin. Ich forme die Worte lautlos und staune, dass sie mich zum Lächeln bringen.
Am nächsten Tag, kurz nach dem Morgengrauen, steht Fiore in der Tür zu unserer Zelle. Quirin will mich sehen.
Es ist ein weiter Weg, der viel Zeit kostet. Fiore geht schnell und ich habe alle Mühe mitzuhalten. Dass wir nur zu zweit sind, beunruhigt mich, daran ändert auch der Bogen nichts, den sie auf dem Rücken trägt.
Es ist kein Weg übers freie Feld, so wie gestern, sondern er führt zwischen Ruinen hindurch. Und zwischen Häusern, ich entdecke einige wirklich gut erhaltene, mit intakten Glasfenstern und starken Mauern. Vor einem hüpft ein Kind herum, schwer zu sagen, ob Junge oder Mädchen.
»Fiore!«, juchzt es. »Wann lesen wir wieder?«
»Bald.« Fiore bleibt stehen und legt eine Hand ans Kinn, als müsste sie sorgfältig überlegen. »Allerdings«, sagt sie in gespieltem Ernst, »habe ich leider vergessen, wie es geht. Diese Buchstaben, du weißt ja. So viele. Und sie sehen alle gleich aus.«
»Fiore!«, protestiert das Kind. »Stimmt doch gar nicht. Du hast sie nicht vergessen.«
»Woher willst du das wissen?« Mit einem Sprung ist
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