Die Verratenen
nächsten Tag nicht, als ich gemeinsam mit Aureljo den Freilegern zugeteilt werde. Während wir ein Stück flaches Land bearbeiten, den Schnee mit Schaufeln zur Seite schieben, bis die nackte Erde vor uns liegt, kommt einmal mehr die Sonne heraus.
Ich glaube nicht, dass ich mich je an dieses Gefühl gewöhnen kann. So viel Wärme, so viel Licht.
»Gut«, stellt Lore fest. Sie ist die Anführerin der Gruppe, eine stämmige Frau um die vierzig mit einem Kopf voller borstiger schwarzer Haare und einer Stimme, die zu hoch ist, um zum Rest zu passen. Sie legt den Kopf in den Nacken und schirmt die Augen ab. »Sieben Tage früher als im letzten Jahr. Es wird wärmer. Lasst uns zusehen, dass die Erde genug von der Wärme abkriegt.«
Wir schaufeln weiter, schieben Schneehaufen an den Rand des Weges, bauen eine weiße Palisade rund um das zukünftige Feld. Irgendwann taut der Schnee von selbst, hat Lore uns erklärt, aber je früher der Boden freiliegt, desto mehr Sonnenwärme kann er aufnehmen und desto größer ist die Chance, dass das, was dort gepflanzt wird, gut wächst.
Nach ungefähr einer halben Stunde ziehe ich den Fellumhang aus, lachend. Niemals zuvor war mir im Freien warm, die Sonne steht noch immer sichtbar am Himmel. Mir ist nach Singen zumute.
»Vorsicht«, warnt Lore. »Eure Haut ist das Licht nicht gewohnt, wenn ihr nicht aufpasst, ist sie heute Abend rot wie rohes Fleisch, und das kann schmerzen, sage ich euch.«
Lore ist eine von denen, die uns freundlich behandeln, und wir folgen ihrem Ratschlag, schon um ihr zu zeigen, wie dankbar wir ihr sind. Ein großer Teil der Männer und Frauen, die auf dem gleichen Feld arbeiten wie wir, betrachtet uns aber ganz klar als Feinde. Einer hat Aureljo heute Morgen angespuckt und mir hat vorhin jemand ein Bein gestellt, als ich nach Sentineln oder Fahndern Ausschau gehalten und nicht auf den Weg geachtet habe.
Es liegt an Yanns gestriger Ansprache, keine Frage. Die Menschen wollten ihre gefangenen Verwandten zurück, stattdessen müssen sie nun den verhassten Lieblingen zeigen, wie sie arbeiten sollen.
Ich würde gern mit ihnen sprechen und sie auf meine Seite ziehen, aber mir fehlen die Argumente. Ich weiß nicht mehr, was wahr ist und was falsch. Ich würde mir selbst nicht glauben.
Wir haben die halbe Wiese vom Schnee befreit, als Lore uns eine Pause machen lässt.
»Seht ihr, da drüben?« Sie zeigt auf einen schneebedeckten Hügel, dessen Kuppe dunkel ist, dunkel wie Erde und Stein. »Dort nimmt uns die Sonne die Arbeit ab.«
Sie drückt Aureljo und mir jeweils ein Stück getrocknetes Fleisch und einen kleinen, harten Fladen in die Hand. »Ihr habt euch nicht schlecht angestellt.« Damit dreht sie sich um und geht zurück zu ihren Leuten.
Wir breiten unsere Mäntel auf einem umgestürzten Baumstamm aus und setzen uns darauf. Für eine Weile wird es gehen – hier sitzen, ohne zu frieren. Ich wische mir den Schweiß von der Stirn, bevor er unangenehm kalt wird.
Neben mir beißt Aureljo in den Fladen, während er bekümmert zu den anderen hinübersieht. »Sie hassen uns so sehr«, sagt er kauend. Es klingt weder traurig noch vorwurfsvoll, er stellt einfach eine Tatsache fest.
»Ginge mir genauso. Du hast ja gehört, was Yann gestern gesagt hat.« Aber nicht, was Lennis mir erzählt hat. Dass er Zeuge war, wie ein ganzer Stamm ausgelöscht wurde. Bei der Erinnerung daran wird mir innerlich kalt.
»Glaubst du es?« Ich sehe Aureljo von der Seite an. Wir hatten so lange keine Gelegenheit, uns ungestört zu unterhalten, wir müssen diese Minuten nutzen. »Stimmt es, was sie sagen? Töten unsere Leute Prims?«
Aureljo lässt sich Zeit mit seiner Antwort. »Ich weiß es nicht. Wenn ja, dann hat man es gut vor mir verborgen.« Er schüttelt den Kopf. »In Menschenführung habe ich oft Sentinel-Protokolle zu lesen bekommen. Du weißt schon, Berichte über Außenmissionen, über Wachgänge, all diese Dinge. Ich sollte Unregelmäßigkeiten finden und nebenbei lernen, wie der Alltag der Sentinel aussieht.« Er hebt das letzte Stück des harten Fladens zum Mund, nur um es wieder sinken zu lassen. »Tagelang habe ich über den Berichten gesessen, habe sie genau studiert. Es war kein einziges Mal die Rede davon, dass man Außenbewohner angegriffen hätte. Umgekehrt schon, aber das weißt du ja.«
Die ersten Freileger beenden ihre Pause. Schaufeln scharren über Schnee und Erde.
»Was, wenn die Berichte nicht echt waren?« Ich packe meine eigene Schaufel. Ich will
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