Die Verratenen
sie an der Tür, hebt das Kind hoch und wirbelt es durch die Luft, bis es vor Vergnügen quietscht.
»Was für ein Buchstabe ist das?«, fragt sie und macht einen runden Mund.
»Ein … ein O!«
»Sooooo ist es!« Sie stellt das Kind wieder auf den Boden und fährt ihm durchs Haar. »Ein andermal. Ich muss jemanden zu Quirin bringen, er wartet.«
Das Kind nickt. »Wenn ich so alt bin wie du, will ich auch zu Quirin.«
»Das wird ihn freuen. Jetzt geh ins Haus, Andris hat heute Morgen Wölfe am Tabor gesehen. Sieben Stück. Sag den anderen, sie sollen vorsichtig sein.«
»Mach ich.« Das Kind hopst über die Schwelle, knallt die Tür hinter sich zu. Schweres, altes Holz, ich wundere mich, dass es noch niemand verbrannt hat.
Wir biegen ab, auf eine breitere Straße. Sie ist praktisch schneefrei. Ich kann nicht anders, ich muss mich bücken und sie berühren. Asphalt nannte man das.
Ein tiefer Riss zieht sich von einer Seite zur anderen, an vielen Stellen sind Schollen aus der Straße herausgebrochen wie Eis aus einem gefrorenen See.
»Komm weiter.« Fiore winkt ungeduldig.
Ich verstehe, dass sie sich beeilen will, und ich habe auch nicht vergessen, was sie über die Wölfe gesagt hat, aber jeder Schritt, den ich tue, wirft neue Fragen auf.
Was zum Beispiel hängt dort oben? Ein schiefer, schmaler Kasten mit drei großen Löchern. Hat er eine Funktion?
Oder hier: Zeichen auf dem Boden. Blass, sehr blass, ich glaube, es sind Pfeile. Und hier Linien, als hätte jemand die Straße der Länge nach auseinanderschneiden wollen und sich angezeichnet, wo er die Schere entlangführen muss. Haben die Menschen sich früher auf diese Weise Botschaften mitgeteilt?
Hier sind noch weitere Markierungen: dicke weiße Streifen, parallel zueinander. Und dort liegt Metall auf dem Asphalt, oder genauer gesagt im Asphalt. Lange Eisenträger mit einer breiten Einkerbung, paarweise folgen sie dem Straßenverlauf.
»Mach gefälligst schneller!«, schnauzt Fiore. Sie steht schon an der nächsten Ecke, späht aufmerksam nach rechts und links und hat den Bogen in die Hand genommen. »Vor ein paar Tagen haben Scharten hier ein Haus besetzt, kann sein, dass wir nicht alle verscheucht haben.«
Das hätte sie auch früher sagen können. Ich beeile mich, zu ihr aufzuschließen.
»Ist es klug, dass wir nur zu zweit unterwegs sind?«, keuche ich. »Wieso hat uns Andris nicht begleitet? Oder einer der anderen?«
»Weil die Wichtigeres zu tun haben, als einen trödeligen Liebling zu eskortieren.«
Hätte ich mir denken können. »Aber du solltest ihnen mehr wert sein, nicht?«
Sie fährt herum, als hätte ich sie beleidigt. »Ich brauche keine Aufpasser. Mir ist noch nie etwas passiert, ich gehe seit Jahren allein durch die Stadt.«
»Na dann.« Ihre Selbstsicherheit wirkt echt, umso besser. Wahrscheinlich hat sie das mit den Scharten nur gesagt, um mich anzutreiben.
»Gerade heute ist es für mich völlig ungefährlich, denn ich habe dich bei mir«, sagt sie wenig später. »Wölfe und Feindclans konzentrieren sich immer auf die leichteste Beute.«
Vor uns liegt wieder der Fluss, doch es ist eine andere Stelle als die, die wir vor ein paar Tagen, auf unserem Weg zum Clanlager, überquert haben. Über dunkles strömendes Wasser führt eine intakte Brücke. Jemand hat ein rotes Tuch an die Reste des Geländers gebunden.
»Was bedeutet das?«, will ich wissen.
»Eine Warnung.« Fiore dreht sich einmal um die eigene Achse. »Wenn du einen Schlitzer siehst, markierst du die Stelle mit etwas Rotem, damit deine Clanbrüder auf der Hut sind.« Sie nimmt den Bogen vom Rücken und legt einen Pfeil ein. »Viele haben rote Tonscherben bei sich, mit denen sie die Zeichen anbringen. Andere nehmen Wolfs- oder Schafdarm. Aber hier hatte jemand ein Tuch zu viel. So viel Wohlstand, man könnte glauben, es war ein Liebling.«
Ich ignoriere den Seitenhieb. »Hier gibt es Schlitzer? Ich dachte –«
»Überall gibt es Schlitzer«, unterbricht mich Fiore. »Sie halten sich nicht an Territorialgrenzen, es sind Nomaden.«
Ich blicke mich um, hektisch. Wie sehen Schlitzer aus? Tarnen sie sich? Ich frage Fiore.
»Du erkennst sie an ihren Zähnen«, antwortet sie knapp. Vorsichtig, als wollte sie prüfen, ob sie hält, setzt sie einen Fuß auf die Brücke. »Es ist nicht mehr weit. Über den Fluss, dann sind wir da.«
Ich spähe zum anderen Ufer hinüber. Kein einziger Mensch zu sehen, aber einige gut erhaltene Häuser. Hoffentlich wohnt Quirin in
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