Die Verratenen
geschehen. Wir kümmern uns um alles.« Kurze Pause. »Es tut mir leid.«
Mein Salvator vibriert wieder, gleich wird das Piepsen von einem Heulen abgelöst werden. Ich halte die Luft an, presse mein Zwerchfell nach oben, das verlangsamt den Herzschlag. Eine Stufe, noch eine … Leise, oh bitte, leise.
Ich weiß nicht, ob meine Schritte zu hören sind, ob meine Hand das Geländer umfasst, ob der Boden unter meinen Füßen wirklich existiert.
Der nächste Treppenabsatz. Hinter mir ist niemand, vor mir auch nicht. Alles riecht nach frischer Farbe, gleich werde ich mich übergeben.
Ich atme die angehaltene Luft vorsichtig aus, sauge frische ein. Noch kein Alarm, nur ein leichtes Vibrieren. Wieder Luft anhalten. Eine Stufe, noch eine. Ich muss mich konzentrieren, ruhig bleiben, sonst verliere ich die Kontrolle über den Salvator.
Ein schneller Blick nach hinten, innehalten, lauschen. Nein, keine Verfolger. Die Stimmen der drei Männer sind weit weg und unverständlich, sie fließen aufgeregt durcheinander. Je weiter ich mich entferne, desto schwerer ist die Melodie ihrer Worte zu deuten, man könnte meinen, sie hätten sich beruhigt. Dem Tonfall nach könnten Gorgias, Morus und der Fremde nun über alles sprechen – über die steigende Temperatur außerhalb der Kuppeln, die neue Sphäre Schwarzwald, die jährlichen Beförderungen –, aber sie sprechen über meinen Tod. Und über eine Verschwörung, die es nicht gibt.
Die letzte Treppenstufe, da ist der Ausgang, eine transparente Schwingtür, die mit Klebeband versiegelt ist. Egal. Ich reiße das Band entzwei, verlasse die Bibliothek, laufe nach draußen, halte mein Gesicht nach oben und starre durch die Kuppel in den Himmel.
Die 7. Und die 1.
Das ist einfach nicht möglich. Niemand kann ernsthaft glauben, dass Aureljo und ich uns gegen den Sphärenbund verschworen haben. Das ist so lächerlich, dass ich kaum Worte dafür finde. Und doch …
Meine Lunge platzt beinahe, ich atme aus und ein – mir wird schwindelig.
Flucht nach vorne, beschließe ich, lasse meinem Puls freien Lauf und schlage die entgegengesetzte Richtung ein. Nicht zur Mensa, wie ursprünglich geplant, sondern direkt zu Kuppel 7.
Als der Salvator zu heulen beginnt, stehe ich schon fast vor dem Medcenter.
Ortet mich, denke ich. Ortet mich jetzt.
6
Der Arzt ist der gleiche wie beim letzten Mal und ganz offensichtlich freut er sich nicht, mich zu sehen. Er nimmt mir den Salvator ab und speist die Daten in seinen Computer ein. Dass er mir eine Frage gestellt hat, bekomme ich erst mit, als er sie wiederholt.
»Hat dich etwas erschreckt?«
Zu Tode. Ich schüttle gespielt nachdenklich den Kopf. »Eigentlich nicht. Ich musste nur an Lu denken und dann ging es mir plötzlich schlecht.« Schluckt er das? Sieht so aus.
»Manchmal setzt der Schock nach einem so furchtbaren Ereignis mit Verzögerung ein«, sagt er. »Halte mal deine Hände flach nach vorne.«
Ich tue, was er verlangt, und meine Hände zittern, als würde jemand Strom hindurchleiten. Der Arzt nickt, als hätte er nichts anderes erwartet.
»Dein Salvator hat eigenartige Kurven aufgezeichnet«, meint er und zeigt mir das Diagramm auf dem Monitor. »Am liebsten würde ich dich über Nacht hierbehalten, um sicherzugehen, dass wir es nicht mit einem organischen Problem zu tun haben.«
»Nein!« Meine Antwort kommt zu schnell. Doch die Vorstellung, in einem fremden Bett liegen zu müssen, allein mit meinen Gedanken, ohne die Möglichkeit, Aureljo von dem Gespräch, das ich belauscht habe, zu erzählen, versetzt mich in Panik.
»Nein«, wiederhole ich ruhiger. »Das ist nicht nötig. Ich fühle mich wohler, wenn ich in meinen eigenen vier Wänden bin.«
Der Arzt sieht mich lange und forschend an. Ich setze seinem ernsten Blick ein Lächeln entgegen und schließlich nickt er und legt mir den Salvator wieder ums linke Handgelenk.
»Gib der Trauer eine Pause«, sagt er, während er die Kontakte in die richtige Position bringt, »versuche, dir etwas Gutes zu tun, verbring zum Beispiel den Rest des Tages mit deinen Freunden, lache ein wenig – und dann denk an Lu.«
Auch wenn seine Worte furchtbar kitschig klingen, treiben sie mir die Tränen in die Augen. Nicht wegen Lu, wie ich mir eingestehen muss, sondern weil der Arzt wahrscheinlich von einem meiner letzten Tage spricht.
Einen Moment lang wird der Drang fast übermächtig, ihm alles zu erzählen, was ich heimlich belauscht habe. Ihm zu versichern, dass nichts davon wahr ist, dass es
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