Die Verratenen

Favorit.
    Nein, das traue ich keinem von beiden zu. Und noch weniger traue ich ihnen zu, fünf weitere Leute in die Sache mit hineinzuziehen, die zudem hinter Tudor gereiht sind und ihm nicht gefährlich werden können.
    Mit einem Mal habe ich Angst, ich könnte die Zahlen vergessen haben. Die 1, die 7, die 32. Dann kam die 65 – Tomma. Ich konzentriere mich, rufe mir den Moment vor Augen, als der unbekannte Mann die Nummern genannt hat, überzeugt davon, dass ihn in dem verlassenen Trakt niemand hört: 89, 114.
    Der Shake schmeckt wie Kleister, über den jemand einen Apfel gerieben hat. Ich schütte alles auf einmal in mich hinein, warte, bis ich sicher sein kann, dass es unten bleibt, und verlasse die Mensa.
    Das Café Agora ist bis auf den letzten Platz besetzt. Es gibt nur wenige Orte in unserer Sphäre, wo man so sehr den Eindruck von Weite hat, wo man das Gefühl, sich in den Eingeweiden eines riesigen Tieres zu befinden, beinahe vergisst.
    Hoch über mir wölbt sich die höchste der transparenten Kuppeln unserer Sphäre, alles hier ist in Weiß gehalten und strahlt selbst im trüben Tageslicht. Normalerweise hebt meine Laune sich schlagartig, jedes Mal, wenn ich hier stehe. Heute fühle ich mich ausgeliefert und ungeschützt. Die Betreffenden müssen getötet werden.
    Mein Puls beginnt sofort wieder zu rasen und ich denke an Baja, an das Bild mit den gelben Blumen, an die Geschichte von dem Mädchen mit den drei Wünschen, die sie uns immer erzählt hat, wenn wir Angst hatten.
    Es hilft.
    An einem der überfüllten Tische entdecke ich Aureljo, lachend, und auch das hilft. Doch bevor ich zu ihm gehe, muss ich noch etwas in Erfahrung bringen.
    Die vier Tafeln, von denen man die Reihung der ersten hundert Studenten ablesen kann, sind in den unteren Hälften der Kuppelwände angebracht, sie sind weiß und die Anzeigen, die sich je nach Fortschritt oder Versagen ändern, leuchten in strahlendem Blau. Die erste Tafel kenne ich auswendig, hier verschiebt sich nur selten etwas. Ich finde Aureljo auf der 1 und mich auf der 7, wie schon seit Monaten. Zum ersten Mal wünsche ich mir, es wäre anders.
    Um die nächste Nummer zu überprüfen, muss ich ein Viertel der Kuppel abschreiten – wäre sie eine Uhr, so befänden sich die vier Tafeln auf der Zwölf, der Drei, der Sechs und der Neun.
    Meine Erinnerung hat mich nicht getrogen: Die 32 ist Fleming, spezialisiert auf Medizin, mit einigen beachtlichen Arbeiten in Mikrobiologie. Vor drei Wochen erst hat er einen Vortrag im Medcenter gehalten. Ich kenne ihn nicht besonders gut, ich weiß nicht, ob ihm ein Bündnis mit den Prims zuzutrauen wäre.
    Auf dem Weg zur dritten Tafel queren zwei grüne Sentinel meinen Weg und neigen lächelnd den Kopf. Ich grüße zurück, die Fröhlichkeit in meinem Gesicht ist so aufgesetzt, dass sie wehtut, aber es scheint ihnen nicht aufzufallen.
    Den Ereignissen der letzten Tage ist schon Rechnung getragen worden. Curvellis Tod hat Tomma auf Position 65 aufsteigen lassen. Tomma, die viel zu ängstlich ist, um auch nur an eine Verschwörung zu denken, die den Regelkatalog der Akademie auswendig aufsagen kann, die keine freiwillige Sonderaufgabe auslässt. Darüber hinaus ist sie eine der besten Botanikerinnen aller Jahrgänge. Wenn es jemand schafft, Getreide aus gefrorenen Erdschollen zu ziehen, dann sie – der Sphärenbund müsste für ihr Talent dankbar sein. Aber ich habe es gehört, der Fremde hat 65 gesagt, ich bin mir absolut sicher.
    Ich gehe weiter zur nächsten Tafel. Auf der 89 ist jemand namens Tycho gereiht, der mir gänzlich unbekannt ist. Das ist etwas merkwürdig, denn normalerweise kennt man die Studenten, die den Sprung unter die ersten hundert schaffen. Sie sind meist in den höheren Semestern und haben ein gewisses Ansehen an der Akademie. Dass ich von Tycho noch nie gehört habe, lässt darauf schließen, dass er entweder erst kürzlich von einer der anderen Akademien zu uns gestoßen ist oder dass er sich unglaublich schnell hochgearbeitet hat. Beides macht ihn zu einer Unbekannten in der Gleichung.
    Um die 114 zu identifizieren, muss ich in die Vorhalle gehen. Die Tafeln hier sind wesentlich kleiner, umfassen aber mehr Einträge. Nummer 114 ist jemand namens Dantorian, das ist auf jeden Fall eine Namenskombination, und ich vermute, der erste Teil bezieht sich auf Dante, den italienischen Dichter. Das lässt auf einen Studenten schließen, der mit Sprache zu tun hat, wahrscheinlich kenne ich sein Gesicht aus einem der