Die Verratenen
den Lesesälen ein. Durch den hinteren Ausgang ist es kürzer zur Akademie.
»Nicht dort entlang«, ruft die Ordnerin mir nach. »Es ist abgesperrt, die kleinen Lesesäle und Bücherspeicher werden renoviert!«
Seufzend mache ich kehrt. Von hier aus noch mal zum Hauptausgang zu gehen, bedeutet einen riesigen Umweg.
Nachdem ich um die nächste Ecke bin, sieht die diensthabende Studentin mich allerdings nicht mehr. Es ist nur eine kleine Verletzung der Regeln. Ich werde nichts anfassen und nichts schmutzig machen.
In dem Gang, der zu einer der Hintertreppen führt, ist es kalt und wie ausgestorben. Leitern lehnen an den Wänden, daneben stapeln sich leere Behälter, in denen sich einmal hellgrüne Farbe befunden hat. Eine große Kunststoffwanne, voll mit Schutt, steht neben der Treppe, die ich hinuntergehen will. Ich setze meinen Fuß auf die erste Stufe und halte mitten in der Bewegung inne. Hinter mir höre ich eine Stimme, zwar unterdrückt, aber trotzdem sehr deutlich. Und sehr ungehalten.
»… für eine Besprechung nicht der richtige Ort!«
Ich drehe mich um, aber da ist niemand. Die Stimme muss aus einem der frisch renovierten Räume kommen und ich glaube zu wissen, wem sie gehört. Diese Art, die harten Konsonanten auszuspucken, kenne ich von Gorgias.
»Es ist für den Anlass der denkbar beste Ort.« Die Stimme, die antwortet, kenne ich nicht. Keiner meiner Mentoren, so viel ist sicher. Sie klingt verhalten, fast wie ein Zischen, und ungeduldig.
Ich versuche herauszufinden, hinter welcher der Türen die beiden Männer sich befinden – noch nie habe ich Gorgias so reden gehört. Hektisch, unwillig, als würde er unter Druck gesetzt. Seine Unruhe steckt mich an. Ist die Akademie vielleicht in Schwierigkeiten? Ist die Regierung des Sphärenbundes mit den Ergebnissen, die wir liefern, unzufrieden?
Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen, dankbar, dass ich noch immer meine Laufschuhe trage. Meine Schritte sind lautlos.
Dann eine dritte Stimme, deren Sprecher ich unzweifelhaft erkenne: Morus.
»Lassen Sie uns zur Sache kommen«, verlangt er.
Sie müssen in dem Raum hinter der weiß gestrichenen Tür sein, von mir aus gesehen ist es die zweite von links. Sie ist zu, aber das Schloss ist noch nicht wieder eingesetzt, durch die Öffnung dringt jedes gesprochene Wort bis zu mir. Etwas stimmt nicht – und einen Moment später weiß ich, was es ist. Gorgias’ persönliche Sentinel fehlen. Wie Wachtürme stehen sie normalerweise vor jedem Raum, in dem er sich aufhält. Um seine Wichtigkeit zu betonen, wie Tudor meint.
»Wir haben es mit einer Verschwörung zu tun.« Wieder die raspelnde Stimme des Unbekannten. »Der Präsident nimmt den Fall sehr ernst. Er will, dass es schnell erledigt wird.«
»Wie ich Ihnen vorhin schon gesagt habe, ist das Unsinn!«, braust Gorgias auf. »An meiner Akademie gibt es keine Verschwörung, hier studiert die Elite des gesamten zentraleuropäischen Sphärenbundes. Der Präsident selbst hat diese Schule absolviert!«
Das Wort hat sich sofort in mir festgehakt. Verschwörung. Im ersten Moment will alles in mir Gorgias zustimmen – niemand hier würde sich gegen den Sphärenbund wenden. Im Gegenteil, wir fiebern alle dem Tag entgegen, an dem wir endlich das einsetzen können, was wir an der Akademie gelernt haben. Wir wollen die bewohnbare Welt vergrößern, verbessern, verstärken. Nicht zerstören.
Andererseits … ich kenne auch nicht jeden Einzelnen hier. Für die breite Masse kann ich meine Hand nicht ins Feuer legen.
»Das wäre ein Skandal«, murmelt Morus. »Unvorstellbar, Sie müssen sich irren –«
»Es ist völlig nebensächlich, was Sie für vorstellbar halten und was nicht«, zischt der Unbekannte. »Wir haben es mit einem Plan zu tun, der den gesamten Bund zerstören könnte. Was wir erfahren haben, übersteigt die Befürchtungen der Regierung bei Weitem.«
»Aber … das …« Gorgias stammelt nur noch.
Ich kann ihn verstehen, meine eigene Kehle ist trocken und wie zugedrückt, etwas ganz weit hinten könnte zu einem Hustenreiz werden. Doch das darf nicht passieren, ich muss hören, worin genau die Gefahr besteht, die uns droht.
Gorgias scheint sich wieder gefasst zu haben. Als er nun spricht, klingt seine Stimme lauter und viel energischer. »Das ist unmöglich. Alle meine Studenten sind dem Sphärenbund treu ergeben. Sie absolvieren regelmäßig psychologische Tests, wir stellen sie bei Auswärtsmissionen auf die Probe, wir wissen, worüber sie
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