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Die Verratenen

Die Verratenen

Titel: Die Verratenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Poznanski
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es verstehen wird, deren Spezialität eigentlich die Optimierung von Nahrungsmittelzusätzen ist.
    Ich nehme den nächsten freien Stuhl und setze mich endlich hin. Rundum ernte ich befremdete Blicke, denn für gewöhnlich sammeln sich die niedrigen Nummern in den ersten zwei Reihen, schon um zu demonstrieren, wie interessiert sie am Vortragsthema sind. Maiossa, nach Tudor die Nummer 3, sitzt neben ihm, direkt gegenüber dem Rednerpult. Pelayo und Libby haben es sich daneben bequem gemacht. Libby hat ihre langen Beine ausgestreckt und sieht sich nach allen Seiten um. Ich vermute, sie hält Ausschau nach Aureljo. Auf dem Platz zu ihrer Linken hat sie etwas abgestellt, das sie blitzschnell unter ihren eigenen Stuhl befördern würde, sollte er sich zeigen.
    Als wenig später die Referentin den Raum betritt, ihre Unterlagen auf dem Rednerpult ausbreitet und das Licht gedämpft wird, räumt Libby den Nachbarstuhl und lässt es zu, dass eine rundliche blonde Studentin sich setzt, die es kaum wagt, Libby anzusehen.
    Auf der Projektionswand wechseln sich Bilder und Diagramme ab. Zugefrorene Seen, Dauerfrostboden, Temperaturstatistiken. Ich frage mich, was Aureljo gerade tut, behalte dabei aber den Salvator im Auge. Sollte meine Fantasie mit mir durchgehen und meinen Puls in die Höhe treiben, werde ich mich einfach ganz schnell auf die Durchschnittstemperaturen der letzten zwölf Jahre in Neu-Bozen konzentrieren.
    Aureljo ist alles andere als dumm. Er wird bei Morus nicht mit der Tür ins Haus fallen, sondern versuchen, das Gespräch unauffällig auf die Themen Verschwörung und Verrat zu lenken. Nur wird Morus ihm nicht abkaufen, dass das Zufall ist. Nicht nach dem, was er vor ein paar Stunden erfahren hat.
    Was wird er also tun? Aureljo beschwichtigen? Ihn unter einem Vorwand wegsperren lassen? Mit Gorgias kann er sich erst nach dem Vortrag besprechen, denn der Rektor sitzt oben auf der Bühne und betrachtet voller Interesse das eben auf die Wand projizierte Bild eines Feldes, von dem der Schnee teilweise getaut ist. Darunter ist dunkle Erde zu sehen. Mit einem Pointer weist die Rednerin auf hellgrün schimmernde Stellen.
    Ich lasse Gorgias mehrere Minuten lang nicht aus den Augen. Hört er wirklich zu? Oder beschäftigt ihn das Schicksal der sechs angeblich verräterischen Studenten? Anhand seines Profils kann ich keinen klaren Schluss ziehen und für einen kurzen, köstlichen Moment schaffe ich es, mir vorzumachen, dass alles lediglich ein Irrtum war. So wie Aureljo es gesagt hat. Dass ich das Gespräch missverstanden habe. Es wird uns nichts passieren, weil dem Sphärenbund keine solch kapitalen Fehler unterlaufen. Hätte ich heute nicht die Abkürzung durch den abgesperrten Bibliothekstrakt genommen, hätte ich das Gespräch nicht gehört und würde nun Hand in Hand mit Aureljo in der ersten Reihe sitzen. Alles wäre normal, nein, alles ist normal und wird seinen üblichen Gang gehen …
    In diesem Moment sehe ich ihn. Den Sentinel ohne Kennungsfarben. Er steht oben auf der Bühne, ein Stück neben Graukos Stuhl, regungslos und beinahe völlig im Schatten.
    Was die Referentin erzählt, scheint ihn nicht ansatzweise zu interessieren. Sein Blick ist auf das Publikum gerichtet, er wirkt hoch konzentriert. Ab und zu werfen die Projektionen helle Reflexe auf sein Gesicht. Ein harter Mund, eng stehende Augen. Ein Soldatengesicht, passend zur Soldatenhaltung: breitbeiniger Stand und auf dem Rücken liegende Hände.
    Ich versuche nachzuvollziehen, worauf sein Blick gerichtet ist, und finde Tycho, der dem Vortrag voller Hingabe lauscht, leicht nach vorn gebeugt und mit halb offenem Mund.
    Mein Salvator vibriert. Einatmen, sage ich mir, tief einatmen. Puls 108, 102, 94. Ausatmen.
    Es hat keinen Sinn, mich weiter selbst zu belügen. Was ich gehört habe, habe ich gehört.
    Die Betreffenden müssen getötet werden.
    Es muss bald geschehen.
    Aber ich werde mich nicht töten lassen. Ich habe nichts Verbotenes getan, im Gegenteil, ich arbeite jeden Tag daran, wertvoll für den Sphärenbund zu sein.
    Diesmal ist es Wut, die meinen Puls beschleunigt. 110. Verdammt noch mal!
    Auf den Vortrag konzentrieren hilft, wenigstens fürs Erste. Ich werde mit Tycho sprechen, er ist schnell im Kopf, er wird alles begreifen, auch wenn ich es nur vorsichtig umschreibe. Ich sehe noch einmal zu ihm. Meine Güte, er kann wirklich kaum älter als fünfzehn sein. Wer kann allen Ernstes glauben, dass er sich an einer Verschwörung beteiligt?
    Plötzlich

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