Die Verratenen
ist da dieses Kribbeln. Ich habe keine Ahnung, wie es entsteht und welche Naturgesetze dafür verantwortlich sind, aber ich weiß mit absoluter Sicherheit, dass ich beobachtet werde.
Ich sehe hoch und mein Blick trifft auf den des farblosen Sentinel. Er nickt mir zu, es ist nur ein kurzes Senken und Heben seines Kinns.
Ich weiß, was er tut. Er sucht sich die Gesichter zu den Nummern, die er Gorgias und Morus genannt hat. Zumindest zwei davon hat er schon gefunden.
Obwohl ich gern wegsehen möchte, kann ich es nicht. Ich starre dem Fremden in die Augen, ich will, dass er den Blick zuerst abwendet.
Irgendwann tut er es. Doch zuvor bleckt er die Zähne zu einem Lächeln.
Als der Vortrag zu Ende ist, laufe ich zu den äußeren Quartieren, ich warte nicht, bis der Applaus im Saal abklingt, sondern dränge mich durch die Reihe, an den noch Sitzenden vorbei und stürze aus der Halle.
Aureljo muss seine Unterredung mit Morus längst beendet haben. Ich durchquere die nächsten zwei Kuppeln in Rekordzeit, achte kaum auf meinen Salvator.
Vor dem Aufgang zu dem Trakt, in dem Aureljo wohnt, stehen drei grüne Sentinel. Einer hebt grüßend die Hand, als er mich kommen sieht. Sie kennen mich, sie wissen, zu wem ich will.
»Ist Aureljo wieder zurück?«, stoße ich keuchend hervor.
»Aber ja«, sagt einer der Wachhabenden. »Er hat bereits angekündigt, dass du wahrscheinlich noch zu Besuch kommst.«
Ich laufe die Treppe hinauf. Aureljos Räume sind ganz oben, er hat drei davon, purer Luxus. Diesmal vibriert der Salvator, weil ich mich überanstrenge, also steige ich die letzten vier Treppenabsätze langsamer hoch.
Aureljo ist zurück. Das ist ein gutes, ein sehr gutes Zeichen. Vielleicht weiß er jetzt mehr. Oder er konnte die Sache aus der Welt schaffen.
Er steht schon in der Tür, als ich oben ankomme. »Wie war der Vortrag?«, will er wissen, noch bevor ich ein Wort sagen kann.
Dass er mir mit seiner Frage zuvorkommt, bedeutet, dass er die Möglichkeit, abgehört zu werden, nicht mehr ausschließt. Er will verhindern, dass ich mit der Tür ins Haus falle und etwas Falsches sage. Als ob ich das in dieser Situation tun würde.
»Hochinteressant, jede Menge neue Erkenntnisse. Du hast wirklich etwas verpasst.«
»Ja, schade.« Er zieht mich in sein Apartment. Hier kann man von drei Seiten in die Welt hinaussehen, es ist fast, als wäre man im Freien. Ich habe das immer sehr schön gefunden, doch heute wären mir blickdichte Wände lieber.
»Und dein Abend?«, frage ich. Wenn ich lächle, klingt meine Stimme sofort unbeschwert.
»Ebenfalls interessant. Möchtest du etwas trinken?«
»Ja, gute Idee.« Ich halte meinen Salvator über das Lesegerät, bekomme ein Kalziumgetränk mit Orangengeschmack empfohlen und drücke die Eingabetaste. Der Bildschirm meldet eine Lieferzeit von acht Minuten.
Merkwürdig. In meinem Quartier steht der Bringdienst meistens drei bis fünf Minuten nach Aufgabe der Bestellung vor der Tür. Ist der Weg zu Aureljo so viel weiter? Oder will man meinem Getränk heute noch etwas beifügen? Eine Prise Kaliumzyanid – dann wäre es eine Verräterin weniger.
»Erzähl mir von deinem Abend«, murmele ich und wünsche mir, ich hätte den Gedanken mit dem Gift nicht gehabt.
»Ich war bei Morus, wie ich es vorhatte«, berichtet Aureljo, »und habe ihn gefragt, wie er meine Zukunft sieht. Was er mir raten würde.«
»Was hat er gesagt?«
»Ich solle so weitermachen wie bisher, ich sei auf einem sehr guten Weg.«
»Das ist doch schön.« Eine wirklich hübsche Worthülse. Ich hoffe, man hört den sarkastischen Unterton nicht, der sich in meine Stimme geschlichen hat. »Aus Morus’ Mund ist das geradezu eine Auszeichnung«, füge ich ernster hinzu.
»Finde ich auch. Ich habe ihn dann gefragt, ob es etwas gibt, das ich noch besser machen könnte. Ob die Akademieleitung noch Schwächen sieht. Egal in welcher Hinsicht. Morus hat kurz darüber nachgedacht und dann gemeint, verbessern könne man sich immer. Aber ich sei den anderen bereits einige Schritte voraus.« Aureljo hebt kurz die Schultern. Er kann Morus’ nichtssagende Antwort nicht deuten. Ich leider auch nicht. Normalerweise bekommen wir ausführlichere Bewertungen von unseren Mentoren, wenn wir danach fragen.
Einige Schritte voraus – das kann man auf verschiedene Weise verstehen. Wenn die Schritte zur Urnenhalle führen, ist es kein ermutigender Gedanke.
»Als ich noch einmal nachgefragt habe«, fährt Aureljo fort, »ob er
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