Die Verratenen
tatsächlich keinen weiteren Rat für mich hätte, wurde er ungeduldig. Ich sei doch sonst nicht so versessen auf sein Urteil.«
Das stimmt leider. Morus muss erstaunt gewesen sein, dass Aureljo ausgerechnet ihn um Rat bezüglich seiner Zukunft fragt. Ausgerechnet heute.
»Ich habe ihm erklärt, dass genau das der Grund sei. Von meinen anderen Mentoren wüsste ich, wie sie mich sehen. Bei ihm nicht so recht.«
»Und?«
Aureljo zögert. »Morus sagte … soweit es ihn beträfe, hätte ich keinen Grund, mir Sorgen zu machen. Die Schienen für meine Zukunft seien bereits gelegt und mein Weg werde vermutlich weniger schwierig und mühevoll sein, als ich es mir im Moment vorstelle.«
Das gibt meiner Angst neue Nahrung. Es ist weder schwierig noch mühevoll, sich töten zu lassen. Ist es das, was Morus gemeint hat?
»Sonst noch etwas?«
»Nein. Ich hatte den Eindruck, dass seine Zeit knapp war und er mich schnell wieder loswerden wollte. Aber er war sehr freundlich.«
Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen. Ich hätte aus Morus’ Miene mehr ablesen können. Ein schlechtes Gewissen. Ein mühevoll unterdrücktes Geheimnis. Trauer.
»Dann ist ja alles gut«, sage ich und lasse es fröhlich klingen. Aureljo wirkt einen Wimpernschlag lang überrascht, bis er begreift, dass meine Heiterkeit nicht echt ist.
»Ja«, stimmt er mir zu und schließt mich in die Arme.
Als kurz darauf mein Kalziumgetränk gebracht wird, nehme ich es strahlend entgegen und lasse es im nächsten Moment fallen. Das Glas bleibt ganz, aber die blasse orangefarbene Flüssigkeit ergießt sich über den Boden und spritzt auf die Schuhe des jungen Manns vom Bringdienst.
Ich setze ein betretenes Gesicht auf. »Das tut mir schrecklich leid. Nein, bitte, Sie können ruhig gehen, ich wische das selbst auf.«
Die Ungeschicktheit von Nummer 7 wird für Gesprächsstoff beim Bringdienst sorgen.
9
Die düstere Ahnung, die uns beide den restlichen Abend über begleitet, ohne dass wir es wagen, die Dinge beim Namen zu nennen, ist zumindest bei Aureljo am nächsten Tag verschwunden. Gorgias hat ihm aufgetragen, eine Rede zu Ehren des Präsidenten vorzubereiten, der in zwei Monaten unsere Sphäre besuchen wird.
»In zwei Monaten«, sagt Aureljo, wobei er jedes Wort betont.
Wider besseres Wissen fühle auch ich mich erleichtert. Gorgias ist immer darauf bedacht, solche hohen Besuche in präziser Perfektion ablaufen zu lassen. Er würde nicht die Rede, die das Aushängeschild seiner Akademie ist, in die Hände einer Person legen, von der er weiß, dass sie in der Zwischenzeit sterben wird.
War es also wirklich ein Missverständnis, das sich inzwischen aufgeklärt hat? Oder bekommen wir einen Aufschub von zwei Monaten? Und wenn ja, warum? Ich wünschte, ich könnte jemanden fragen. Doch der einzige Mentor, dem ich ausreichend vertraue, ist Grauko, und er weiß nichts von der Unterredung in der Bibliothek. Jedenfalls glaube ich das.
Die Vormittagslektionen sind für heute vorbei, wir sitzen an den verschrammten Tischen der Mensa, jeder vor seiner Ernährungszusammenstellung. Ich löffle etwas Breiiges in mich hinein, obwohl mein Magen sich vor Nervosität klein und hart anfühlt. Hoch oben klettert ein Säuberungsteam über die Kuppel und putzt die Hermetoplastscheiben, kratzt gefrorenen Schnee ab.
Der Unterhaltung der anderen folge ich heute nicht, ich suche den farblosen Sentinel. Ich möchte ihn in ein Gespräch verwickeln, wenn auch nur ganz kurz, und seine Stimme hören. Wenn es die gleiche ist wie die des Fremden in der Bibliothek, habe ich zumindest ein Rätsel gelöst.
Den Sentinel entdecke ich nirgendwo, dafür aber Tycho, der mehr auf seinem Stuhl hockt als sitzt und mit der Gabel etwas in sein Essen zeichnet. Die fünf, die mit ihm den Tisch teilen, beobachten ihn fasziniert.
Zwei Löffel noch, den Rest kann ich guten Gewissens zurückgehen lassen. Ich nehme meinen Teller und bringe ihn zur Geschirrstation, dabei mache ich einen Umweg an Tychos Tisch vorbei.
»… ist eine Schaltung, die die Kuppeln miteinander verbindet und die Temperatur überall gleich hält«, höre ich ihn sagen. Das, worin er mit der Gabel malt, muss Spinatersatz sein, es ist grün und zieht Fäden. »Angenommen, man legt einen dieser Sensoren lahm, dann heizt das System die ganze Sphäre weiter und weiter auf, bis …«
Sensoren lahmlegen?
Ich stütze mich mit beiden Händen auf die Tischplatte und lächle strahlend in die Runde. »Es tut mir leid, aber ich muss euch
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