Die verrückteste Nacht meines Lebens (German Edition)
Stempel »psychisch gestört« verpasst. Und außerdem war ich quasi gezwungen, damit anzufangen. Es wäre damals nämlich durchaus möglich gewesen, dass man meinen Dad in eine Stadt versetzt hätte, die fünfzig Meilen entfernt war. Wir hätten dann mit der ganzen Familie an einen Ort ziehen müssen, wo keiner uns kannte.
Und natürlich kam ich in meinem zwölfjährigen Minihirn zu der total abwegigen Überzeugung, dass ich eine vollkommen andere Person würde, wenn ich nur in ein anderes Haus in einer anderen Stadt ziehen könnte. Dann würde ich meine Zahnspange und mein fisseliges Kraushaar ein für alle Mal hinter mir lassen und mich in eine regelrechte Göttin verwandeln. Niemand würde mich in der neuen Schule kennen, daher könnte ich sein, wer immer ich wollte, und nicht einfach nur »Kate Sellmans kleine Schwester Eliza«. Aus dem Grund kaufte ich mir im Drogeriemarkt von meinem Taschengeld ein lilafarbenes Notizheft und fing an, alles aufzuschreiben, wovor ich damals Angst hatte, wovor ich mich aber in der neuen Schule selbstverständlich nicht mehr fürchten würde.
Die Sachen, die ich notierte, waren anfangs logischerweise recht lahm, zum Beispiel einem Jungen einen Zungenkuss geben oder einen Jungen zum Tanzen auffordern oder diese krass engen Hosen tragen, die damals alle Mädchen anhatten. Aber irgendwie ging es mir gleich besser, wenn ich die Sachen zu Papier brachte, und nachdem die Sache mit der Versetzung meines Vaters vom Tisch war, machte ich mir auch weiterhin Notizen. Und schrieb und schrieb und schrieb. Und, tja, ich schreibe heute noch regelmäßig. Nicht jeden Tag. Nur ab und zu.
Natürlich haben sich die Ängste, die ich aufliste, über die Jahre verändert, und aus den dämlichsten Sachen sind echt ernste Angelegenheiten geworden. Klar schreib ich auch immer noch total blöde Sachen rein, zum Beispiel, wenn es um ein bestimmtes Outfit geht, das ich gern tragen würde. Aber ich habe da drin auch weitaus komplexere Sachverhalte stehen. Zum Beispiel wie sehr ich mir wünschte, ich hätte den Mumm, zu einer politischen Kundgebung zu gehen, oder wie sehr ich mir wünschte, ich hätte kein Problem damit, dass ich immer noch nicht weiß, was ich für Fächer belegen soll, wenn ich aufs College komme. Und die Tatsache, dass ich all diese äußerst peinlichen und immer noch total aktuellen Dinge IN MEIN NOTIZHEFT GESCHRIEBEN HABE , bedeutet, dass ich es unbedingt wiederfinden muss. Und zwar sofort.
Es klingelt an der Tür, während ich mir gerade überlege, ob das Heft wohl im Auto meiner Eltern liegt und mit ihnen zu der Messe für Antiquitäten unterwegs ist, auf die sie wollten. Das wäre einerseits gar nicht mal so schlecht, denn wäre es da wenigstens in Sicherheit, andererseits aber auch wieder nicht so gut, weil meine Eltern es (a) lesen könnten und (b) ich nicht im Wagen werde nachsehen können, bis sie zurück sind. Und das bedeutet wiederum, dass ich das ganze Wochenende total hibbelig und kurz vor dem Ausrasten sein werde.
»Das ist wahrscheinlich Marissa«, sage ich zu Clarice.
Clarice stöhnt nur und verdreht die blauen Augen. »Warum muss die denn auch noch kommen?«, will sie wissen. Schmollend schiebt sie ihre Unterlippe mit dem pinkfarbenen Lipgloss vor.
»Weil sie unsere Freundin ist«, sage ich. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Marissa ist meine Freundin, und Clarice ist meine Freundin, und Marissa und Clarice sind … na ja … sie haben eine besondere Art der Beziehung, eine richtige Hassliebe. Tief im Inneren haben die beiden sich total gern (zumindest glaube ich, dass sie das tun). Nur hält Marissa Clarice für eine bescheuerte Nervensäge, wohingegen Clarice findet, dass Marissa eine durchgeknallte kleine Schlampe ist. Und irgendwie haben sie wohl beide recht.
Offenbar hatte Marissa keine Lust mehr, vor der Tür zu warten, und ist einfach reinmarschiert, weil sie nämlich schon eine Sekunde später bei mir in der Zimmertür steht.
»Was treibt ihr hier drinnen?«, will sie wissen.
»Ich suche was«, erkläre ich aus dem Inneren des Kleiderschranks, von wo aus ich Taschen, Pullis, Gürtel und Schuhe über die Schulter nach hinten schleudere, in der Hoffnung, so mein Heft zu finden, das irgendwo unter dem ganzen Haufen vergraben sein könnte. Ich versuche mich zu erinnern, wann ich das letzte Mal etwas reingeschrieben habe. Ich glaube, das war vergangene Woche. Erst habe ich mit meiner Schwester zu Abend gegessen, und dann habe ich irgendwas darüber
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