Die verschollene Flotte 04 - Gearys Ehre
Ruhe zum Nachdenken suchte, andererseits aber auch darauf achten musste, von ihrer Crew gesehen zu werden.
Ironischerweise waren solche Treffen mit Desjani die beste Verteidigung gegen die Gerüchte über eine Beziehung, die man ihnen beiden nachsagte. Hätte man sie nicht gesehen, wie sie gemeinsam im Schiff unterwegs waren und sich unterhielten, wäre schnell spekuliert worden, dass sie sich wohl irgendwo im Verborgenen trafen, wo niemand sie beobachten konnte.
Die Unterhaltungen betrafen meistens dienstliche Themen: den Krieg, die Führung des Schiffs, die Vor- und Nachteile verschiedener Schiffstypen, Taktiken, Logistik, Personalange-legenheiten und die Frage, welches Ziel die Flotte als Nächstes ansteuern sollte. Nichts davon konnte jemand, der sie zufällig belauschte, für ein privates Gespräch halten, auch wenn Desjani mit großer Leidenschaft über diese Dinge redete, weil es für sie das Größte war, ein Flottenoffizier zu sein.
Aber je öfter sie sich unterhielten, umso mehr erzählte Desjani von ihrer Heimatwelt Kosatka und vom Allianz-Gebiet im Allgemeinen, von ihrer Familie und ihren Freunden - und nach und nach brachte sie Geary dazu, selbst auch über diese Dinge zu reden. Dabei musste er feststellen, dass er Erinnerungen zutage förderte, die er für zu schmerzhaft gehalten hatte; Gedanken an Menschen und Orte, die längst nicht mehr existierten. Es überraschte ihn, dass diese Ausflüge in sein Gedächtnis nicht nur etwas Melancholisches, sondern auch etwas Befreiendes hatten.
»Sie sprachen vor einer Weile davon, dass Sie jemanden an Bord der Dreadnought kennen«, begann Desjani bei einem dieser Spaziergänge, bei dem sie einen langen, zu den Antriebseinheiten führenden Korridor entlangschlenderten. Es war tiefe Schiffsnacht, und nur gelegentlich begegneten sie einem Matrosen oder einem Offizier, der noch etwas zu erledigen hatte.
Ihre Bemerkung wühlte frischere, schmerzhaftere Erinnerungen auf, die bis ins Heimatsystem der Syndiks zurück-reichten. »Ja«, bestätigte Geary leise. »Meine Großnichte. Die Schwester von Captain Michael Geary. Er hat mir eine Nachricht für sie mitgegeben.«
Desjani warf einen Blick auf ihre Datentafel. »Commander Jane Geary? Sie befindet sich nicht nur an Bord der Dread-
nought, sie ist auch die Befehlshaberin.« Dann stutzte sie. »Ein Schlachtschiff, das von einer Geary befehligt wird? Das ist irgendwie eigenartig. Aber ich habe nie irgendetwas Negatives über sie zu hören bekommen.«
Geary bemühte sich, nicht zu schnauben. Die moderne Flotte schickte ihre besten Offiziere auf die Schlachtkreuzer, mit denen sie allen voran in die Schlacht zogen, um als Erste zu sterben. »Vielleicht stellt man unmöglich hohe Erwartungen an sie.«
»Sie meinen, man misst sie an ihrem legendären Groß-
onkel?«, fragte Desjani und begann zu lächeln. »Das ist denkbar.« Dann wurde sie wieder ernst. »Und wenn wir zurückkehren, müssen Sie ihr erzählen, dass ihr Bruder vermutlich tot ist. Das tut mir leid.«
»Das wird nicht leicht werden.«
»Aber Sie sagten, Sie sollen ihr eine Nachricht überbrin-gen, richtig?«
»Ja. Es war so ziemlich das Letzte, was er mir mitteilen konnte, bevor die Repulse zerstört wurde.« Er dachte darüber nach und kam zu dem Schluss, wenn es außer den Gearys einen Menschen gab, der diese Nachricht verstehen konnte, dann war es wohl Desjani. »Ich soll ihr ausrichten, dass er mich nicht mehr hasst.«
Sie machte eine entsetzte Miene, die gleich darauf einen nachdenklichen Ausdruck annahm. »Die unmöglich hohen Erwartungen … Michael Geary hat Sie gehasst, weil man diese Erwartungen an ihn gestellt hatte, richtig?«
»So hat er es ausgedrückt.« In der kurzen Zeit, in der er mit seinem Großneffen hatte reden können, war ihm kaum Gelegenheit geblieben, ein anderes als dieses Thema anzuschnei-den.
»Aber er hat seine Meinung geändert.« Desjani sah Geary lange an. »Weil er die Repulse eingesetzt hat, um den Feind aufzuhalten. Ein letzter Versuch der Nachhut, dem Rest der Flotte die Flucht zu ermöglichen. Es war das Gleiche, was Sie damals auch gemacht haben. Dann hat er Ihr Handeln also verstanden, oder?«
»Ja.« Es war für ihn eine große Erleichterung, diese Geschichte mit einem anderen Menschen zu teilen. Tanya Desjani hatte verstanden, was er sagen wollte, aber das war auch kein Wunder. »Ihm war klar geworden, dass ich das nicht gemacht habe, weil ich mich für einen Helden hielt oder weil es mir um Ruhm ging.
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