Die verschollene Karawane
Mönch schaute Peter nun direkt an. Seine winzigen Äuglein verunsicherten ihn. Noch immer war er sich nicht sicher, ob dieser Mann blind war oder nicht. Vielleicht bewegte er sich nur deswegen so scheinbar sicher, weil er auf dieser kaum mehr als 500 Meter langen Insel längst jeden Millimeter kannte, jeden Schritt tausendfach getan hatte. Vielleicht hatte er den Baum neben der Kirche noch nie in seinem Leben gesehen. Alles, was er wusste, kannte er womöglich nur aus Erzählungen. Las er mit seinen Fingerkuppen, ertastete er die Schriftzeichen? Lebte der Greis in einer anderen, in einer dunklen Welt? Waren seine anderen Sinnesorgane deswegen so geschärft und hatte er deshalb seherische Fähigkeiten?
Als habe der Mönch seine Gedanken erraten, klappte er plötzlich das Buch der Wunder zu. »Mein Sohn, was ich dir jetzt sage, steht nicht in diesem Buch geschrieben. Der Abba des Klosters Tana Cherkos, also des Klosters, das ihr morgen besuchen wollt, hat mir das mal erzählt. Er weiß von den damaligen Geschehnissen sehr viel. Er hat gesagt, dass Äthiopien erstmals in den Briefen des Dominikanermönchs Jordanus als ›Reich des Priesterkönigs‹ auftauchte. Wieso, konnte sich hier niemand erklären. Später wurde dann sogar eine äthiopische Delegation zum Konzil nach Florenz eingeladen. Dort wurden unsere Glaubensbrüder gefragt, ob sie den Presbyter Johannes kennen würden. Sie verneinten, wunderten sich dann aber sehr, dass ihre abendländischen Brüder unseren äthiopischen König weiterhin als Priesterkönig Johannes bezeichneten! Du siehst, das scheint euch Menschen aus Europa eigen zu sein: Ihr müsst allem einen Namen geben! Hat es keinen Namen, könnt ihr nicht daran glauben. Wenn ihr euch nach etwas sehnt, dann heißt diese Sehnsucht plötzlich Priesterkönig Johannes. Und wenn es ihn nicht gibt, dann erfindet ihr ihn oder lasst diesen Titel unserem König angedeihen. So war es wohl damals. Und das Wundersame daran ist, dass alle es glaubten. Denn eure Landkarten wiesen plötzlich ein Regnum Presbyteri Johannis in Nordostafrika auf. Das Konzil von Konstanz erwartete sogar eine Delegation des Priesterkönigs. Wir fanden das alles sehr seltsam, was da geschah. Doch auch in unseren Herzen keimte plötzlich Hoffnung auf, denn die Moslems bedrohten unser Land. Ohne Hilfe konnten wir uns der Ungläubigen nicht mehr erwehren. Was lag da näher, als sich mit den Christen im Abendland zu verbünden? Warum sollten wir deren Illusion, ihren Traum, dass unser König der Priesterkönig Johannes sei, zerstören? Man muss den Glauben der Menschen schüren, nicht zerstören! Wer glauben will, den soll man glauben lassen. Glauben lässt aus Ameisenhügeln Berge und aus einem afrikanischen Christenkönig einen Erlöser werden. Diese Geschichte beweist das.«
Peters Gedanken überschlugen sich. Die Dinge, die der Greis soeben gesagt hatte, verliehen der ganzen Angelegenheit eine völlig neue Dimension. Womöglich hatten sich einfallsreiche Kleriker in Rom eine mystische Geschichte ausgedacht, sie mit biblischen Prophezeiungen ergänzt, um die erschlaffte Bereitschaft der abendländischen Staaten, Kreuzzüge durchzuführen, zu reaktivieren. Dieser scheinbar absurde und doch irgendwie naheliegende Gedanke ließ Peter nicht mehr los. Wenn plötzlich ein angeblich mächtiges Christenreich mit einem Priesterkönig Johannes als Anführer eines gigantischen Heeres im Süden der moslemischen Staaten existierte, würden Europas Herrscher sich im Rahmen einer heiligen Allianz fraglos wieder zu neuen Feldzügen überreden lassen. Wo Hoffnung keimt, gedeiht die Bereitschaft zu neuen Anstrengungen! Ja, so konnte es gewesen sein! Irgendjemand in Europa hatte irgendwann damit angefangen, die äthiopischen Herrscher als Priesterkönig Johannes zu bezeichnen. Nicht als Eigenname, sondern als Titel! Die Äthiopier nannten schließlich ihre Könige und Priester Abba – Ältester. Die Europäer nannten sie Presbyter – was ebenfalls Ältester hieß!
Der Mönch richtete plötzlich seinen Oberkörper auf und lauschte angestrengt. Als habe ihm ein Vogel die Uhrzeit zugezwitschert, sagte er: »Es ist wenige Minuten vor dem Nachmittagsgebet. Ich hoffe, dass ich euch ein wenig helfen konnte, Wahrheiten zu finden. Ob ihr sie mögt, wage ich zu bezweifeln. Vielleicht werdet ihr morgen im Kloster Tana Cherkos mehr erfahren. Dort weiß man, wie Kaiserin Eleni mit den Portugiesen einen Plan schmiedete, unser Land, das Abendland und Jerusalem von den
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