Die verschollene Karawane
raffinierten, heller schimmernden Strähnen, das mit einem Band aus Kaurimuscheln zusammengehalten wurde, betrachtet. Ihr Busen hatte sich unter der luftigen Bluse deutlich gegen das Licht abgezeichnet. Der weite, weich fallende Rock hatte im Gegenlicht schemenhaft erahnen lassen, dass sie einen makellosen Körper hatte. Was für eine Schönheit – eine unaufdringliche, aparte, fast unschuldige Schönheit, die auf harmonische Weise zu ihren ruhigen, geschmeidigen Bewegungen passte.
»Schau mal, die Frau dort drüben«, hatte er Yvonne auf sie aufmerksam gemacht, »hat sie nicht eine faszinierende Ausstrahlung? Sie sieht aus wie eine Prinzessin aus Tausendundeiner Nacht! Ich denke, sie ist aus Somalia, vielleicht auch aus Eritrea.«
Mehr hatte er nicht gesagt. Aber Yvonnes sanftmütige Stimmung war in Bruchteilen von Sekunden in einem unvorstellbar heftigen und bitterbösen Eifersuchtsanfall explodiert. Yvonne mochte keine Frauen, die mehr – oder etwas anderes – ausstrahlten als sie selbst. Er hatte so etwas schon drei Mal erlebt. Und jedes Mal war sie sehr ausfallend geworden.
»Wenn du auf blutjunge, gertenschlanke afrikanische Prinzessinnen mit prallem Hintern stehst, dann lass dich nicht aufhalten, lieber Peter. Ich kenne ja deine Vorliebe für die Verlockungen des dunklen Kontinents!«
Obwohl sie eigentlich zur Kirche Santa Maria Gloriosa dei Frari wollten, um Charles ausfindig zu machen, war sie bei der nächsten Haltestelle wutentbrannt ausgestiegen und blitzschnell in einer Seitengasse bei San Toma verschwunden. Er war unglaublich wütend gewesen über diese Überreaktion. Und es war ihm unendlich peinlich gewesen, dass die Afrikanerin die lautstarken Worte offenbar gehört und scheinbar auch richtig gedeutet hatte, denn sie hatte sich zu ihm umgedreht und ihn angeschaut. Es war ein tiefgründiger, fast arroganter, in gewisser Hinsicht sogar herablassend wirkender Augenaufschlag gewesen. Mehr nicht. Doch da war noch etwas anderes in diesem Blick gelegen, das ihn innerlich hatte erzittern lassen.
Entschlossen trank Peter seinen Cappuccino aus, verbannte Yvonne und die geheimnisvolle Schöne aus seinen Gedanken und beschloss, sich darauf zu konzentrieren, was ihn eigentlich nach Venedig geführt hatte – die Notiz von Charles.
Der von Charles erwähnte Heilige von Montpellier, dessen war er sich sicher gewesen, konnte nur der heilige Rochus, San Rocco sein, der Ende des 13. Jahrhunderts dem Reichtum seiner edlen Familie in Frankreich abgeschworen und sich in ganz Europa um die Pflege Pestkranker gekümmert hatte. Auch in Venedig, wo er nach einer schweren Pestilenz zum Mitschutzheiligen der Stadt ernannt und in der Kirche Santa Maria Gloriosa dei Frari, vor deren Portal Peter nun stand, begraben worden war. An diesem Ort spielte ein Blinder oft auf seiner Gitarre, das wusste er, und dass Charles diesen Blinden meinte, lag nahe. Ja, dieser Gitarrist war fraglos »jener, der hört, was andere sehen«. Charles hatte ihm öfter erzählt, wie er früher in dieser Kirche zur Messe gegangen war und sich anschließend mit einem Freund aus der Erzbruderschaft Scuola Grande di San Rocco heimlich getroffen hatte, um über Dinge zu sprechen, die so geheimnisvoll waren, dass Charles sich immer bekreuzigte, und »Gott möge mir meine sündigen, von Zweifeln erfüllten Gedanken verzeihen« murmelte, wenn er dieses Thema erwähnte. Worum es dabei ging, hatte Charles nie auch nur mit einem Wort angedeutet. Allmählich begann Peter jedoch zu ahnen, dass es direkte Zusammenhänge zwischen den Geschehnissen der letzten Tage und diesen geheimnisvollen Äußerungen von damals gab.
Der Blinde saß auf den Stufen vor dem Kirchenportal. Seine Gitarre stand neben dem Notenhalter. Es war ein futuristisch anmutendes Instrument. An Stelle des hölzernen Klangkörpers waren die Saiten über einen schlichten, dreieckigen Aluminiumrahmen mit einem Verstärker im Zentrum gespannt. Zwei Lautsprecherboxen befanden sich auf den Treppenstufen. Der Blinde selbst war nicht minder auffällig. Seidig-blondes Haar wallte dem ungewöhnlich gut aussehenden, etwa 30-jährigen Mann bis auf die Schulter. Auf seinem markanten Gesicht lag ein gewinnendes Lächeln. Auf den Stufen der Kirche und auf der Mauer der gegenüberliegenden Scuola Grande di San Rocco saßen auffällig viele junge Frauen und warteten darauf, dass der schöne Gitarrist zu spielen begann. Aber er tat es nicht. Als spüre er die bedrohliche Nähe eines Menschen, richtete
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