Die verschollene Karawane
der Musiker plötzlich seine eigentümlich leblos wirkenden Augen in Richtung der Backsteinkirche von Santa Maria Gloriosa dei Frari. Doch der Mann, den er intuitiv in seiner Nähe wähnte, stand bereits hinter ihm. Der auffallend braun gebrannte, etwa Vierzigjährige trug Jeans, ein blaues Hemd und eine Sonnenbrille.
Er sprach leise, mit einem fremdländischen Akzent: »Buon giorno.«
Der Blinde wirbelte herum. Seine Augen versuchten zu fixieren, was er zwar nicht sah, aber unangenehm nahe spürte. Sein Lächeln wirkte gequält.
»Wer ist da?«, fragte er mit zittriger Stimme. Seine Mundwinkel zuckten nervös.
Peter konnte sich nicht erklären, warum der Mann zitterte. Noch nie hatte er Angst in den Augen eines Blinden gesehen. Es berührte ihn unangenehm, wie der Gitarrist seine Pupillen auf ihn richtete, doch durch ihn hindurch zu starren schien.
»Tut mir leid, dass ich Sie so erschreckt habe, Carlo«, sagte er in der vagen Hoffnung, der Blinde würde ihn an seiner Stimme wiedererkennen, könne sich an die wenigen Worte erinnern, die er vor zwei Jahren mit ihm gewechselt hatte. Damals war er mit Charles hier gewesen, hatte fasziniert dem klassischen Gitarrenspiel gelauscht und sich bei dem Gedanken ertappt, nur ein Blinder könne so herzergreifend feinfühlig spielen. Seither hatte er die melancholischen Gitarrenklänge dieses Mannes stets mit dem einzigartig romantischen Ambiente des Campo San Rocco im Stadtteil San Polo assoziiert, der für ihn einer der schönsten Winkel Venedigs war. Überthront und umringt von dem von Säulen getragenen weißen Portal der Scuola Grande di San Rocco, der gegenüberliegenden Kirche und der beinahe störend schlichten gotischen Franziskanerkirche, schlug auf diesem Platz noch immer das Herz jenes Venedigs, das er wohl nie kennen gelernt hätte, wenn er Yvonne nicht getroffen hätte.
Plötzlich klang die Stimme des Blinden sehr selbstbewusst: »Buon giorno! Kann ich Ihnen helfen? Möchten Sie vielleicht eine meiner CDs kaufen?«
Peter hatte das Gefühl, als habe der Blinde ihn erwartet. »Ein Freund von mir hat mir mitteilen lassen, dass Sie ein Libretto für eine Oper von Jakob Meyer für mich haben.«
Da der Blinde mit einem Mal ungewöhnlich ernst wirkte, glaubte Peter, dass er in seinem näheren Umfeld nach Geräuschen lauschte, die ihm die Anwesenheit anderer Menschen signalisieren würden.
Der Gitarrist räusperte sich. »Sie kennen diese Oper?«
»Nein, leider noch nicht«, antwortete Peter. »Um ehrlich zu sein, ich habe noch nie von einem Komponisten mit diesem Namen gehört. Aber mein Freund kennt meine musikalischen Vorlieben. Er will mir damit sicherlich eine große Freude bereiten.«
»Wissen Sie, um welche Oper es sich handelt?« Der Gitarrist lächelte bei dieser Frage.
Abermals fühlte Peter sich verunsichert, als der Blinde ihm direkt in die Augen zu schauen schien.
»Den Namen Jakob Meyer kennen wirklich nur wenige Menschen. Da ich versucht habe, Musik zu studieren, das aber aufgeben musste, weil alle Dozenten dieser Welt glauben, man müsse Musik in Form von Noten auf Blättern lesen können, habe ich von Jakob Meyer schon gehört, bevor unser gemeinsamer Freund mich auf ihn ansprach. Dieser Komponist hieß in Wirklichkeit Jakob Meyer Beer – ein deutscher Doppelname. Sein Vater war ein jüdischer Bankier in Berlin und seine Mutter eine gebürtige Meyer. Weil viele Leute diesen Namen Mitte des 19. Jahrhunderts in Paris und auch während seiner Studien bei Salieri in Wien und in Italien nicht aussprechen konnten, hat er daraus Giacomo Meyerbeer gemacht, was sich doch wirklich toll anhört, oder?« Ohne auf eine Antwort zu warten, sprach der Blinde weiter. »Seine Oper Il crociato in Egitto ist nicht gerade sehr bekannt. Haben Sie schon davon gehört?«
Peter horchte auf. Er sprach leidlich Italienisch und wusste daher, dass »Egitto« nichts anderes als Ägypten hieß. Und »crociato« bedeutete Kreuzfahrer. Oder Kreuzritter? Ein Kreuzfahrer oder ein Kreuzritter in Ägypten! Das musste ein versteckter Hinweis von Charles sein. Ging es hier um Jerusalem oder um Ägypten?
Aufgeregt antwortete er: »Nein, von der Oper habe ich noch nie gehört, vom Meyerbeer auch nicht viel. Um was geht es in der Oper?«
Der Blinde lächelte geradezu triumphierend. »Nein, nein, das ist nicht die Oper, um die es geht. War nur ein Scherz. Ich versuche, mit meinem Wissen zu kokettieren! Ich bitte um Nachsicht. Außerdem plaudere ich gerne. Wer den ganzen Tag über
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