Die verschollene Karawane
ihr eigentlich nur, weil er so braungebrannt war und weil sein schwarzes Haar im Fahrtwind ständig über sein Gesicht fiel und ihn am Fotografieren hinderte, was ihn zu lustigen Grimassen und seltsamen Handbewegungen veranlasst hatte. Dann hatte sie bemerkt, dass dieser breitschultrige Mann mit dem kantigen Gesicht sie durch das Objektiv seiner Kamera hindurch beobachtete, sie fotografierte. Sie hatte seine Blicke auf ihrem Körper geradezu gespürt. Und sie hatte es genossen. Ohne zu wissen, warum. Dieser Mann strahlte etwas aus, das sie faszinierte. Vielleicht war es seine selbstbewusste Körperhaltung oder sein Lächeln, seine Mimik. Es war eine eigentümliches Situation gewesen: hinter ihr ein Araber, vor dem sie sich fürchtete, vor ihr ein Europäer, der fast die gleiche Kleidung wie der Araber trug und der sie durch die Linse seiner Kamera beobachtete, sie in seinen Fantasien vielleicht sogar auszog. Angst im Nacken und ein Kribbeln im Bauch – das hatte sie auf dem Boot empfunden. Geblieben war die Angst. Bis hierher nach Lissabon.
Am Platz vor dem Teatro National bat sie den Taxifahrer, zwei Mal um den Kreisverkehr herumzufahren. Misstrauisch taxierte sie jedes Fahrzeug, das hinter ihnen fuhr. Niemand schien ihnen zu folgen.
»Hast du Angst, dass dir dein Mann auf die Schliche kommt und dich mit deinem Liebhaber ertappt? Oder hast du etwa für heute Nacht noch keinen Lover? Das ließe sich schnell ändern«, sagte der junge, ungepflegt wirkende Fahrer in schlechtem Portugiesisch und starrte ihr über den Rückspiegel völlig ungeniert auf ihren Busen.
Die anzüglichen Bemerkungen ärgerten sie. Er hatte Ekel erregenden Mundgeruch und fettiges Haar. Ohne Zweifel war er Brasilianer. Wahrscheinlich einer dieser mittellosen Immigranten aus den einstigen portugiesischen Kolonien, die zu hunderten tagsüber am Platz nahe der Statue von Dom Pedro IV. herumlungerten. Ihre Reaktion war harsch.
»Sehe ich etwa so aus, als würde ich mich mit einem Taxi fahrenden Clochard mit einer Mutter und vielen Vätern einlassen?«, fauchte sie und starrte demonstrativ aus dem Fenster.
Wenige Minuten später erreichten sie die Kathedrale am Fuße des Stadtteils Alfama. Der Anblick des unscheinbaren Backsteingebäudes mit den zwei quadratischen Glockentürmen beruhigte sie. Hier kannte sie jeden Winkel, jede Gasse – und viele Menschen. Hier lebten ihre Freunde. In Alfama war sie sicher. Sie stieg aus, überquerte die Straße und ging die für Fahrzeuge gesperrte Rua da Saudade hinauf, bis sie die enge Rua das Damas erreichte. Nochmals verharrte sie, prüfte, ob jemand ihr gefolgt war. Sie sah nur einen jungen Mann, der auf einer Bank am Ende der Gasse unter einem Baum saß und eine Zigarette rauchte. Gegen das Licht der Straßenlaterne sah er ein wenig wie ein Araber aus. In Alfama wohnten allerdings sehr viele Afrikaner, Südamerikaner und auch Araber. Schon im zwölften Jahrhundert war es Heimat maurischer Handwerker und Händler gewesen. Seit Künstler und Intellektuelle dieses Viertel für sich entdeckt hatten und immer mehr avantgardistische Szenenlokale hier öffneten, veränderte sich das Flair dieses Viertels zunehmend. Aber noch galt Alfama in Lissabon als Refugium für Ausländer, Ausgegrenzte und Verarmte. Es war eine in sich geschlossene Welt der Andersartigkeit.
Sie atmete auf. Niemand war ihr gefolgt. Ihr Blick schweifte über das altblau getünchte Haus, an dessen brüchige Fassade defekte Strom- und Telefonleitungen herabhingen. So sah es im gesamten Viertel aus. Alfama war eine marode Welt mit mittelalterlichem Flair.
Wenig später stand sie auf dem winzigen Balkon ihrer kleinen Wohnung im Dachgeschoss und genoss den Blick über die Stadt und die Kais. Die Nacht war mild. Wie immer wehte eine Brise vom Rio Tejo herauf. Die beiden weißen Türme der Iglesia de San Vicente de Fora und die Kuppel von Santa Engracia hoben sich, von Scheinwerfern angestrahlt, zu ihrer Linken gegen den Nachthimmel ab. Auf der anderen Seite des Flusses funkelten die Lichter der Stadtteile Barreiro und Lavradio. Weiter entfernt, zu ihrer Rechten, schimmerten die Lichterketten der Ponte 25 de Abril.
Sie liebte dieses Panorama. Mit viel Zeit, Geld und viel Liebe zum Detail hatte sie aus der einst tristen Zweizimmerkaschemme ein wahres Schmuckstück gemacht. Als sie vor Jahren hier einzog, hatte es nur zwei mickrige kleine Fenster gegeben. Die Lehmwände bröckelten, das Schindeldach war undicht gewesen. Es war ein dunkles Loch
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