Die verschollene Symphonie
gehabt, ihn kennen zu lernen oder ihn gar mit eigener Hand zu berühren. Der Tag, an dem ich ihm endlich von Angesicht zu Angesicht gegenüber stand, sollte sein letzter sein. Wollte ich noch mit ihm sprechen oder ihn berühren, so musste ich handeln oder ich würde es den Rest meines Lebens bereuen.
Die Römer sperrten die Straße zu dem Hügel ab, auf dem die Kreuzigungen stattfanden. Niemand aus dem Pöbel durfte nahe genug herankommen, um die Verurteilten zu betrauern – oder zu bespucken. Eine Reihe von Bettlern leistete jedoch verschiedene Hilfsarbeiten für die Soldaten, und mit einer kleinen Bestechung brachte ich einen von ihnen dazu, mir seinen Platz zu überlassen. Ich hatte nicht erwartet, dass mir die Aufgabe zuteil würde, dem geschundenen und blutüberströmten Jesus die Gewänder auszuziehen. Eine Gelegenheit ist jedoch besser als keine, und während die Soldaten mit der Vorbereitung des Kreuzes beschäftigt waren, begann ich den Nazarener langsam zu entkleiden und beugte mich dabei nahe an ihn heran.
›Seid Ihr tatsächlich der Sohn Gottes?‹, flüsterte ich ihm zu.
Er blickte mit matten Augen zu mir hoch. ›Warum willst du das wissen?‹
Ich zuckte mit den Schultern und arbeitete weiter, während ich ein Auge auf die Soldaten gerichtet hielt. ›Ich will es einfach nur wissen. Ich habe viel über Euch gehört und mich immer gefragt, wie viel davon wahr ist.‹
›Und wenn nun alles wahr ist oder alles falsch, oder nur einiges wahr und anderes falsch?‹
Ich hielt inne und blickte ihn an. ›Ich… ich weiß nicht. Ich glaube, ich will es einfach nur wissen… Ich wollte Euch berühren, wie andere es getan haben.‹
Er wies auf die Bündel, die ich in den Händen hielt. ›Du hast mein Gewand berührt. Du hast mein Fleisch berührt und mein Blut. Und, hat es dich verändert, so wie die anderen?‹
›Ähm, nein… eigentlich nicht…‹
Sein Kopf sank ein wenig herab, doch er blickte mir weiterhin in die Augen. ›Warum erwartest du dann, dass meine Worte eine Wirkung haben werden, wenn Leben und Tod, Wahrheit und Lüge dir nicht mehr bedeuten als der Lauf der Zeit?‹
Ich dachte noch über eine mögliche Antwort nach, als einer der römischen Soldaten mit einer Peitsche nach ihm schlug. Sie schoben mich brutal zur Seite, packten Jesus und nagelten ihn an das Holz. Benommen stand ich da und sah zu, wie sie das Kreuz aufrichteten. Ich bemerkte kaum, wie irgendjemand mir die Gewänder aus den Händen nahm, um sie zu verkaufen, und mir später meinen Anteil am Gewinn, eine einzelne Silbermünze, in die Tasche steckte. Ich sah zu, wie die Leute sich ihm nähern durften, um zu trauern, um Vergebung zu bitten oder gar um ihn mit der Spitze eines Speeres zu verletzen. Schließlich nahm ich meine letzte Kraft zusammen und ging zum Kreuz. Ich blickte zu ihm hoch, und zu meinem ewigen Bedauern fragte ich noch einmal: ›Ich kann keinen Frieden finden, bevor ich es nicht weiß. Seid Ihr der Sohn Gottes?‹
Er blickte zu mir herab. In seinem Blick lag unendliche Trauer und mehr Barmherzigkeit, als ich verdient hatte. Einen Augenblick später antwortete er mir.
›Wenn du die Antwort darauf nicht selbst findest, werden meine Worte sinnlos sein. Jeder Mensch wählt seinen eigenen Frieden, und ich habe gewählt. Ich werde mich zur Ruhe begeben. Du jedoch wirst wandern ohne zu ruhen. Du sollst in dieser Welt verweilen, bis ich wiederkehre.‹
Das war alles, was er mir zu sagen hatte.
Dann starb er.«
»Wie laufen die Gespräche?«, fragte Doktor Syntax. Er trat gerade aus Galens Zimmer, als Marisa die Treppe von dem Stockwerk herunterkam, in dem Maddox untergebracht war. Rasch schloss er die Tür hinter sich und blickte Marisa erwartungsvoll an.
»Ganz gut – sie waren recht ungewöhnlich. Die Gespräche mit Corwin Maddox kreisen entweder um christliche oder um urbane, kulturelle Mythen. Beidem liegt jedoch die Befürchtung zugrunde, dass er den wahrhaftigen Satan gefunden und aus dem Kerker freigelassen haben könnte.«
»Hmm. Das klingt, als könne er sich nicht entscheiden, auf wessen Seite er steht.«
»Oh, er empfindet auf jeden Fall Reue«, sagte Marisa. »Aber ich glaube, die Geschichte über die Befreiung des Teufels ist einfach eine Variation der anderen, in der es um seine Ohnmacht angesichts der Kreuzigung Jesu geht. In beiden Geschichten drückt sich ein enormes Schuldgefühl aus. Maddox ist ziemlich besessen von diesem Thema, das beweist seine Kenntnis sehr spezieller und
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