Die verschollene Symphonie
obskurer Einzelheiten. Darüber will er jedoch nicht reden, deshalb kommt es nur zum Vorschein, wenn er über etwas anderes spricht. Allerdings frage ich mich, inwieweit das Ganze mit seinem Satan-Komplex in Beziehung steht, denn es hat auch etwas mit einem Freund namens ›Stiefelchen‹ zu tun.«
»Beeindruckend«, sagte Doktor Syntax. »Während der ganzen Zeit, in der ich mit ihm Gespräche geführt habe, bin ich nicht so weit vorangekommen.«
»Stiefelchen ist eine stark idealisierte Figur«, erwiderte Marisa. »Ich bezweifle, dass er mehr ist als eine von Maddox’ Spezialitäten: eine Spielart eines urbanen Mythos.«
»Die Tatsache, dass er diesen ›Stiefelchen‹ idealisiert, ist genau das, was mich daran interessiert.«
»Warum fasziniert Sie gerade dieses Stück Folklore?«
»Wenn es etwas mit diesem Ort Silvertown zu tun hat, handelt es sich dabei vielleicht um mehr als Folklore«, sagte Doktor Syntax finster. »Ich habe mich mit Hilfe von Maddox’ eigenen Aufzeichnungen über Silvertown informiert. Die urbanen Mythen dieses Ortes scheinen ungewöhnlich viele Bezeichnungen zu enthalten, die ihren Ursprung nicht in der zeitgenössischen Kultur des Landstriches haben. Und all diese Sagen lassen sich auf eine einzige Quelle zurückführen: einen Geschichtenerzähler namens Wasily Strugatski, auch bekannt unter dem Namen ›Stiefelchen‹. Die Kinder in der Gegend, besonders die Landstreicher, erzählen Geschichten über Orte mit Namen wie Wals Höhle, Ass Garten oder Niefels Heim. Woran erinnern Sie diese Namen?«
Marisa biss sich nachdenklich auf die Lippe. Plötzlich durchflutete sie die Erkenntnis, ihre Augen weiteten sich vor Erstaunen und ihr Kinn klappte herunter. »Walhalla, Asgard und…«
»Nifelheim«, sagte Doktor Syntax. »Das Totenreich in den alten Mythologien.«
»Die nordischen Mythologien und…«
»Die eddischen Mythologien, richtig. Dieselbe Mythensammlung, auf der auch Wagners Ring- Zyklus beruht und die unseren neuen Patienten zu uns gebracht hat.«
»Aus psychologischer Sicht ist das unglaublich«, sagte Marisa. »Aber können Sie tatsächlich eine Verbindung herstellen, die auf mehr beruht als Zufall?«
»Ja, das kann ich«, sagte Doktor Syntax und wedelte lässig mit einem Fax. »Heute Morgen, bevor die Telefonleitungen endgültig unterbrochen wurden, habe ich eine Reihe von Meldungen über die sich verschlechternde Situation auf der ganzen Welt erhalten, in denen es vor allem um die neue Eiszeit geht, die allem Anschein nach angebrochen ist. Unter diesen Meldungen befand sich auch ein unbestätigter Bericht darüber, dass der größte Teil von Ontario in Kanada von einem tropischen Dschungel überwuchert wurde, wie man ihn in dieser Region seit Tausenden, wenn nicht gar Millionen von Jahren nicht mehr gesehen hat. Und diese Entwicklung hatte ihren Ursprung im Hafen gegenüber von Silvertown – genau dort, wo sich laut Maddox’ Aufzeichnungen über urbane Mythen Niefels Heim befinden soll.«
»Das ist unglaublich.«
»Und das ist noch nicht alles – Sie sagten, Maddox hätte sich versprochen und Satan als ›Saturn‹ bezeichnet?«
»Ja.«
»Als historische Figur ist Satan relativ jung. Er tauchte erst mit der Verbreitung des Christentums auf. Saturn ist jedoch sehr viel älter und besaß in der Frühzeit der germanischen Überlieferung einen anderen Namen: Loki. Saturn ist nur ein anderer Name für den altnordischen Lügengott.«
Die plötzliche Klimaveränderung mit ihren arktischen Temperaturen bereitete den Mitarbeitern ebenso großes Unbehagen wie die damit einhergehenden Ärgernisse: das Versagen der elektrischen und technischen Geräte, die zwangsläufige Rückkehr zu Bleistift und Papier bei Arbeiten, die längst mit Hilfe von Computern erledigt wurden. Während sich Marisa noch auf diese neue Situation einzustellen versuchte, wurden die täglichen Patientengespräche für sie zu einem Anker, an den sie sich klammern konnte: die übersprudelnden, phantasievollen Geschichten, die Maddox sich ausdachte; Herr Schwans unerschütterliches Schweigen. Und darüber hinaus die Stunden des amüsanten Schlagabtauschs zwischen den drei Professoren von der Universität Wien.
Die drei glaubten zwar, von atlantischen Magiern besessen zu sein. Die meiste Zeit über entsprachen sie allerdings eher dem Bild, das sich die Ärzte der Eidolon-Stiftung von ihnen gemacht hatten: drei vertrocknete, alte Akademiker, die in einer recht originellen kollektiven
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