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Die verschollene Symphonie

Die verschollene Symphonie

Titel: Die verschollene Symphonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A. Owen
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Raumes waren durch einen braun-grau gestreiften, mit einer Goldkante versehenen Vorhang voneinander getrennt. Wenn die Vorstellung begann, wurde dieser Vorhang zur Seite und dann hoch gezogen, um den Eindruck zu erwecken, unsichtbare Hände würden ihn anmutig beiseite schieben. Die gesamte Inneneinrichtung des Gebäudes war in denselben Farben gehalten wie der Vorhang und sollte die Patrone der Wagner-Stiftung mit einem düsteren Gefühl der Vorahnung erfüllen, das nur schwer zu zerstreuen war. Das Äußere des Gebäudes mit seiner Fassade aus Backstein und Holz war dagegen weniger eindrucksvoll. Sein wahres Wesen offenbarte es erst in seinem Inneren.
    Das Orchester bestand in erster Linie aus Konzertmeistern, Professoren, Virtuosen und Hofmusikern, die ihre Dienste für eine geringe Aufwandsentschädigung zur Verfügung stellten. Deshalb fanden die Aufführungen im Spätsommer statt, wenn die Musiker an den großen Opernhäusern Urlaub hatten und Wagners Ruf folgen konnten.
    Die Proben begannen am 3. Juni 1876 und endeten am 9. August. Am 13., 14., 15., und 16. dieses Monats fanden die ersten Aufführungen statt, eine Woche später die zweiten und in der darauf folgenden Woche die dritten und letzten. Ich habe sie alle besucht, von der ersten Probe bis zum letzten Schließen des Vorhangs.«
    Die Stimme hielt inne, als warte sie auf Marisas Zustimmung um fortfahren zu können. Marisa setzte sich auf die Treppe und die Stimme nahm die Erzählung augenblicklich wieder auf. »Von den drei Aufführungen war die zweite die beste – es sollten nicht die ersten und auch nicht die letzten Arien sein…«
     

     
    Herr Schwan erzählte die ganze Nacht hindurch bis zum Anbruch der Morgendämmerung, die sich eher am schwindenden Licht von Marisas Laterne bemerkbar machte als an dem matten Grau, das sich draußen auszubreiten begann. Sie hatte kein einziges Wort mehr gesagt, während er ihr von seinen Erinnerungen an die vier Aufführungen erzählte, und als er geendet hatte, vermochte auch ihr vorsichtiges Nachhaken ihn nicht mehr aus der Reserve zu locken. Er hatte seine Geschichte erzählt – mehr würde sie von ihm nicht erfahren.
    Statt ihre Fragen zu beantworten, hatte Herr Schwans Redefluss nur noch mehr Fragen aufgeworfen: Warum hatte er sich nach so langem Schweigen dazu entschlossen, mit ihr zu sprechen? Warum die Geschichte über den Ring- Zyklus, ganz gleich, ob er nun tatsächlich die ersten Aufführungen besucht hatte, wie er behauptete? Und wieso hatte er ihr die Geschichte zu einem Zeitpunkt erzählt, da mehrere Vorfälle in der Einrichtung eine geheimnisvolle Verbindung zu wagnerischen Mythen vermuten ließen?
    Sie lächelte bitter. Die Aufführung, von der Herr Schwan gesprochen hatte, war erst vor kurzem zu einer herben Enttäuschung für Wagner-Liebhaber geworden, ganz zu schweigen von…
    Sie hielt erschrocken inne, als ihr plötzlich die Verbindung bewusst wurde, und beinahe hätte sie ihre Laterne fallen lassen.
    Die Aufführung war weder für Galen, den Rektor der Universität Wien, noch für sein Opfer Michael Langbein besonders gut verlaufen… der an derselben Universität Professor gewesen war.
    Ebenso wie die drei Magier im Nordturm.
    Es erstaunte und beschämte Marisa ein wenig, dass sie den Zusammenhang nicht eher erkannt hatte. Noch mehr beunruhigte sie, dass Doktor Syntax ihn wohl kaum übersehen hatte. Je länger sie darüber nachdachte, desto überzeugter war sie, dass sie Recht hatte: Einer der Gründe, warum Galen in die Klinik gebracht worden war, war seine Verbindung mit den Magiern. Aber was bedeutete das?
    Sie schritt den Korridor hinunter, der die Türme mit dem Hauptkomplex verband, und beschloss, den Direktor über die ganze Sache zur Rede zu stellen, sobald er ihr über den Weg lief. Wie sich herausstellte, kam er bereits zwanzig Sekunden später durch die Tür am anderen Ende des Korridors gestürzt. Er hielt etwas gegen seine Brust gedrückt und griff mit dem freien Arm nach einem Eichenholzbrett, das in der Ecke neben dem Eingang an der Wand lehnte. »Schnell«, rief er mit aschfahlem Gesicht, an dem Schweißtropfen hinabliefen. »Um Himmels willen, helfen Sie mir, die Tür zu verriegeln!«
    Marisa stellte die Laterne ab, eilte zu ihm hinüber und half ihm, das große Brett in die Eisenhaken zu schieben. Sie fragte sich, warum er nicht die modernen Metallbolzen benutzte, die als Schließmechanismus an den Türen angebracht worden waren, als ein kräftiger Schlag von der

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