Die verschollene Symphonie
Wagners, wurde später allerdings zu einem erbitterten Kritiker. Die einstige Freundschaft verwandelte sich in eine Art Hassliebe, Liszt gehörte ebenfalls zu Wagners Verehrern, und seine Tochter Cosima wurde Wagners zweite Frau. Sie war mit Hans von Bülow verheiratet, einem Komponisten, Dirigenten und Anhänger Wagners, als sie eine Affäre mit Wagner begann, und nach der Geburt ihres ersten Kindes verließ sie ihren Mann und heiratete Richard.
Ein wichtiger Mäzen Wagners war Ludwig II., der von 1864 bis 1886 König von Bayern war. Er bewunderte Wagners Opern, und als er mit 18Jahren den Thron bestieg, rettete er Wagner vor dem Bankrott und unterstützte ihn den Rest seines Lebens. 1886 wurde er für geisteskrank erklärt, verlor die Krone und wurde drei Tage später gemeinsam mit seinem Psychiater tot in einem See aufgefunden.
Das Detail mit dem Psychiater berührte eine Saite in Marisa, die wie ein psychohistorisches Déjà-vu widerhallte. Sie nahm sich vor, darüber später noch etwas genauer nachzulesen.
Die Bibliothek der Stiftung bestand hauptsächlich aus medizinischen und wissenschaftlichen Büchern. Es gab auch einige Geschichtsbücher, von denen sich die meisten jedoch nur sehr oberflächlich mit dem Thema befassten, das Marisa interessierte.
Sie vermutete, dass RISC Linz über bessere Ressourcen verfügte, und beschloss deshalb, am nächsten Morgen einmal zu den Hauptgebäuden hinüberzugehen und nachzusehen.
Der Zeiger in ihrem Kopf rückte um eine Kerbe weiter. Morgen war bereits der fünfte Tag – sie musste sich beeilen.
Marisa stieg die Treppe im Nordturm hinauf, um vor Einbruch der Nacht noch ein letztes Mal bei den Patienten vorbeizuschauen. Dabei pfiff sie Passagen aus der Walküre vor sich hin, an die sie sich aus ihrer Kindheit erinnerte, als sie plötzlich eine leise Begleitung der Melodien vernahm, so leise, dass sie sie zunächst für Einbildung hielt.
»Keines der Opernhäuser in Deutschland verfügte über die Ausstattung oder das Personal, um Wagners Vision vom Ring des Nibelungen angemessen verwirklichen zu können«, sagte eine Stimme, die geisterhaft durch den Korridor schwebte. »Es blieb ihm also nur eines, um sein Ziel zu erreichen.«
Marisa erstarrte. Die Stimme war aus Herrn Schwans Raum gedrungen. Sie zögerte mit einer Antwort. Sollte es sich tatsächlich um den einsiedlerischen Patienten handeln, so wusste sie nicht, ob ihn eine Antwort zu einer Erwiderung ermuntern oder eher davon abhalten würde. Sie dachte einen Augenblick darüber nach, und als kein weiterer Laut mehr zu hören war, beschloss sie, das Risiko einzugehen. »Was hat Wagner getan?«
»Was hat Wagner nicht getan«, erwiderte die Stimme augenblicklich, »um dieses überaus noble Ziel zu erreichen? Seine Schöpfung hatte ihn Mühe gekostet, doch all dies wäre umsonst gewesen, wenn sich kein angemessener Aufführungsort für den Zyklus gefunden hätte. Wagner gründete eine Aktiengesellschaft, deren Mitglieder den Titel Patron und einen Patronatsschein erhielten – eine Eintrittskarte für einen Zyklus von drei Aufführungen, die jede in vier Nächten das gesamte Drama präsentierten. Dieses Angebot fand so viel Anklang, dass die notwendigen finanziellen Mittel bald zusammenkamen und Wagner schließlich den Grundstein zu seinem großen Theater legen konnte.«
»In Bayreuth?«, rutschte es Marisa versehentlich heraus.
»Der Bau begann 1872 in Bayreuth«, fuhr die Stimme fort, als hätte sie ihre Frage nicht gehört. »Bauplan und Ausführung waren darauf angelegt, die gesamte Aufmerksamkeit des Publikums auf die Bühne zu konzentrieren. Der Zuschauerraum wurde in der Form eines Amphitheaters angelegt. An seinem höchsten Punkt befand sich die Galerie für den König, die sich direkt hinter der letzten Sitzreihe über die gesamte Breite des Raums erstreckte. Von der Galerie des Königs bis hin zur Bühne war der Zuschauerraum mit Sitzreihen gefüllt. Es gab keine Vorbühnenlogen, die die Aufmerksamkeit von der Aufführung hätten ablenken können. Der Raum wurde an beiden Seiten von korinthischen Säulen eingerahmt, die die Eingänge kennzeichneten. In deren Nähe hingen die Kronleuchter, die das Haus beleuchteten.
Das Orchester befand sich unterhalb der Bühne in einem Graben, der ein verkleinertes Abbild des Zuschauerraums darstellte. Der Dirigent saß an seinem höchsten Punkt, den Musikern zugewandt. Von dieser Vorbühne führten zwei Gänge in den Zuschauerraum. Die beiden Teile des
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