Die verschollene Symphonie
Kindergeschichten – oder?
Doktor Kapelson ging in Gedanken die Gespräche der letzten drei Tage durch. Gab es noch andere Hinweise auf altnordische Mythologie? Wahrscheinlich nicht. Es sprach jedoch nichts dagegen, ihre Nachforschungen für den Rest der Woche in diese Richtung fortzusetzen. Zumindest hätte sie dann etwas zu tun, das sie von der Kälte ablenkte.
Die Straßen waren noch immer unpassierbar, doch von der allgemein zunehmenden Beunruhigung abgesehen, bestand keine direkte Gefahr für die Menschen in der Stiftung. Die Pfleger hatten das funktionsuntüchtige Heizungssystem demontiert, damit die alten Kamine wieder ihrer wahren Bestimmung zugeführt werden konnten, und in den Ställen fand sich ein ansehnlicher Vorrat an trockenem Brennholz. Auf dem Grundstück gab es einen Brunnen, der beheizt werden konnte, um ihn vor dem Einfrieren zu bewahren; aus ihm konnte das Wasser per Hand hochgezogen werden. Nahrungsmittel würden ebenfalls kein Problem darstellen. Als Doktor Kapelson an diesem Morgen ihre Bürotür öffnete, brach wie aus dem überfüllten Spind eines Schulmädchens eine ganze Lawine auf sie nieder.
Ehrlich gesagt überraschte es sie nur wenig, dass ihr Büro bis an die Decke mit Hühnern vollgestopft war, und noch weniger, dass die Tiere mausetot waren. Es gab ihr jedoch zu denken, dass die Hühner allesamt blau waren.
Blaue Federn, blaues Fleisch, blaues Blut – doch Marisa war alles andere als eine Kostverächterin.
Zur Mittagszeit stellte sich heraus, dass ein Pfleger namens Burke verschwunden war. Es wurde vermutet, er habe sich aus dem Staub gemacht, um sich allein nach Linz durchzuschlagen. Doktor Kapelson kam jedoch ein anderer Verdacht, als sie bei den drei Magiern vorbeischaute, die immer noch an ihre Betten gefesselt waren, und feststellte, dass ihre Münder mit frischem Blut verkrustet waren.
Die drei leugneten, etwas über den Pfleger zu wissen, und ihre Behauptungen wurden bestätigt, als zwei Mitarbeiter eine Reihe von Fußabdrücken im Schnee fanden, die in Richtung Dorf führten. Etwa dreihundert Meter von den Gebäuden entfernt endete die Spur abrupt in einem breiten Kreis aus rot gefärbtem Schnee. Eine unvorstellbare Gewalttat musste sich an diesem Ort ereignet haben, und das mit einer purpurnen Schicht überzogene Eis war der einzige Hinweis darauf, dass sich hier einmal ein lebendes menschliches Wesen befunden hatte.
Nach dieser Entdeckung wagte sich keiner der Mitarbeiter mehr aus dem Gebäude – auch wenn sie das auf die extreme Kälte schoben.
Um Viertel nach eins wurde der Oberkörper einer der Krankenschwestern auf dem Dachboden des Südturms gefunden. Ihre Todesursache blieb ungeklärt.
Als die drei Magier die Neuigkeit vernahmen, grinsten sie nur dümmlich.
Doktor Kapelson beschloss, ihre privaten Nachforschungen zunächst auf das lohnendste Ziel zu richten: Mikaal Gunnar-Galen. Das bedeutete, dass sie sich auf Wagner konzentrieren musste. Sie hatte keinen Zugriff auf die offiziellen Akten, doch Doktor Syntax hatte angedeutet, dass die Wagnerfestspiele eine Rolle bei dem Ereignis gespielt hatten, das Galen in die Klinik gebracht hatte. Die Erwähnung der Ur-Edda war ebenfalls ein Anhaltspunkt. Doch sie wollte sich vor allem Klarheit darüber verschaffen, was ein bestimmter Vorfall zu bedeuten hatte. Etwas, an das sie die ganze Woche nicht mehr gedacht hatte: Galen hatte sie mit einer mythischen Gestalt verwechselt.
›Ich hätte diesem Vorfall mehr Beachtung schenken sollen‹, dachte sie und unterdrückte ein Schaudern. Die Person, die Galen als Letztes in dieser Weise verwechselt hatte, war eines gewaltsamen, blutigen Todes gestorben. Und Marisa war ohne Begleitung in seinen Raum gegangen!
Nachdem sie den Schwestern Anweisung gegeben hatte, das Abendessen zu verteilen und die Petroleumlampen nachzufüllen, zog sie sich zum Lesen in ihr Arbeitszimmer zurück.
Doktor Kapelson näherte sich ihrem Thema systematisch, angefangen mit den Grundlagen: Wilhelm Richard Wagner wurde am 22. Mai 1813 in Leipzig geboren. Er starb nach einem Herzanfall am 13. Februar 1883 in Venedig. Für seine Opern ließ er ein eigenes Theater bauen, obwohl es über seine tatsächlichen Absichten in Bezug auf dieses Theater unterschiedlichste Meinungen gab. Es wurde in der deutschen Stadt Bayreuth erbaut und 1876 mit der ersten kompletten Aufführung des Ring des Nibelungen eingeweiht.
Nietzsche war ein enger Freund und Bewunderer
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