Die verschollene Symphonie
»Und bevor wir das erste Ritual durchführen konnten, gingen die Lichter von selbst wieder an. Also haben wir ein wenig Abrakadabra veranstaltet – und hier sind wir.«
»Warum seid ihr nicht einfach durch die Fenster hereingekommen?«
»Aus dem gleichen Grund, warum wir auch mit der Tür Schwierigkeiten hatten«, sagte Peter. »Eisen. Dagegen ist unsere Magie wirkungslos, und die Tür hat einen Metallrahmen. Das hat unsere Fähigkeiten und Kräfte sehr geschwächt. Aus dem gleichen Grund konnten auch die Mantikore nicht durchbrechen.«
»Und bei den Fenstern?«
»Die Gitter«, sagte Monty. »Sie sind zwar sehr dünn, aber ein Hindernis ist ein Hindernis, und mit Erdmetallen lässt sich nicht spaßen. Ehrlich gesagt hättet ihr uns mit diesen billigen Metallbolzen mehr Schwierigkeiten bereitet als mit dem riesigen Eichenbalken.«
Marisa und Doktor Syntax warfen einander einen Blick zu. Beide durchzuckte der gleiche Gedanke: Die Tür am Fuße des Turms, die erst vor kurzem im Zuge der Renovierungsarbeiten eingebaut worden war, war leicht, billig, nicht besonders stabil und bestand aus Aluminium.
Einen Versuch war es wert.
Lex erriet ihre Gedanken beinahe augenblicklich. »Mist«, rief er. »Haltet sie!«
Doktor Syntax, unter einem Arm das Huhn und unter dem anderen die Übersetzung der Ur-Edda, stürmte mit einer Geschwindigkeit los, die Marisa ihm niemals zugetraut hätte und schon gar nicht nachmachen konnte. Er hatte bereits die Hälfte des Korridors hinter sich gelassen, bevor die Magier sich auch nur in Bewegung gesetzt hatten.
Die weniger flinke Marisa hatte sich zunächst unbeholfen umgedreht, und als sie schließlich loslief, hatte Monty bereits ihren Ärmel zu fassen bekommen. In Windeseile schlüpfte sie aus ihrem Kittel, ehe er sie fester packen konnte, und hatte in wenigen Augenblicken die Tür erreicht. Doktor Syntax schlug die Tür hinter ihr zu und schob die Riegel vor, während die auf Deutsch, Englisch und Atlantisch fluchenden Magier mit großem Gepolter dagegen liefen.
»Guter Sprint«, sagte Doktor Syntax. »Es freut mich zu sehen, dass das Bein Ihnen so gute Dienste leistet.«
Marisa sah ihn an, und ihr Gesicht zeigte eine Mischung aus Furcht und aufkeimendem Ärger.
»Was haben Sie gesagt?«
»Was um Himmels willen geht dort draußen vor sich?«, unterbrach sie eine Stimme. »Könnte mir bitte jemand sagen, was passiert ist?«
Die Stimme gehörte dem Patienten in dem weißen Raum im Erdgeschoss – Galen.
Doktor Syntax ließ das Huhn fallen und lief rasch zu der Tür hinüber. »Woran erinnern Sie sich, Hagen? Sagen Sie es mir, schnell!«
»Hagen?«, erwiderte die Stimme verwirrt. »Ich… ich weiß nicht… ich war in meinem Büro in Wien… Nein, das stimmt nicht. Ich war in… Bayreuth. Ich bin in Bayreuth gewesen, nicht wahr?«
»Ja, das ist richtig«, sagte Doktor Syntax und öffnete die Tür. »Woran erinnern Sie sich noch?«
Galen kauerte mit schweißüberströmtem Gesicht in einer Ecke des Raums. Voller Verwunderung und Furcht blickte er zu den Ärzten auf.
»Ich… ich erinnere mich an Blut und an einen… Toten?«
»Es hat einen Toten gegeben, ja.«
»War ich das?«
»Natürlich nicht«, sagte Marisa. »Wie kommen Sie denn darauf?«
»Weil«, sagte Galen, »ich glaube, dass ich gestorben bin… zumindest habe ich aufgehört zu existieren, und das ist doch das Gleiche wie sterben, oder?«
»Nicht ganz«, erwiderte Doktor Syntax leise. »Verdammt nochmal, irgendetwas stimmt hier nicht.«
Ohne dem Direktor Beachtung zu schenken, ging Marisa zu Galen hinüber. »Wie geht es Ihnen jetzt?«
»Mein Gott«, hauchte er. »Ich lebe noch? Wo bin ich?«
Sie blieb beunruhigt stehen. Sein Verhalten war von einer geistigen Klarheit geprägt, die sie an ihm noch nicht beobachtet hatte. Ob dies ein neuer Aspekt seines Wahnsinns war oder eine Besserung seines Zustandes, ließ sich erst feststellen, wenn er weitersprach.
»Sie sind in einem Krankenhaus, Hagen. An einem sicheren Ort.«
»W-wie haben Sie mich genannt?«
Sie zögerte und warf dem nachdenklichen und offenbar beunruhigten Direktor einen Blick zu, bevor sie antwortete. »Hagen. Ich habe Sie Hagen genannt.«
»Mein Name«, erwiderte er und erhob sich ungeschickt und langsam, »ist nicht Hagen. Wie Sie auf diesen Gedanken kommen, kann ich nicht ganz nachvollziehen. Zunächst einmal«, schloss er mit so viel Würde, wie ihm sein geschwächter Körper zugestand, »möchte ich eines klarstellen: Mein Name ist Mikaal
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