Die verschollene Symphonie
hier sein würden?«
»Nun, eine einfache Antwort auf eine einfache Frage«, erwiderte Juda. »Ich war es.«
KAPITEL ZEHN
Die Zwischenzeit
»Die meisten Theorien über die Möglichkeit prophetischer Begabung gehen von dem aus, was im Allgemeinen als mehrdeutige und ungewisse Größen in der traditionellen Vorstellung von der Beschaffenheit der Zukunft gilt«, begann Juda zu erklären. »Diesen Theorien zufolge entfaltet sich die Zukunft in der Gegenwart oder existiert gleichzeitig mit ihr. Während meiner Forschungen, die ich zusammen mit einem Wissenschaftler namens Saltmarsh betrieb, der sich auf die wissenschaftliche Überprüfung von Theorien über die Prophetie spezialisiert hatte, wurde mir klar, dass das Problem dieser Fragestellung nicht so sehr in unseren Vorstellungen von der Zukunft, als vielmehr in unserem Verständnis der Gegenwart liegt. Zum einen ist das, was wir als Gegenwart bezeichnen, nicht wirklich existent. Wenn wir etwas wahrnehmen«, fuhr er fort und hob eine von Henriettas Federn auf, »etwa eine Feder, die zu Boden fällt, haben wir den Eindruck, dass unsere Wahrnehmung und die Deutung dessen, was wir wahrnehmen, sich gleichzeitig vollziehen.«
»Berührung ist nicht immer auch Deutung«, sagte Marisa.
Juda zwinkerte ihr zu. »Und Sie waren an jenem Abend eine bessere Schülerin, als ich gedacht hätte.« Er ließ die Feder fallen und diese trudelte langsam zu Boden. »Sehen Sie?«, sagte Juda. »Berührung. Wie Doktor Kapelson jedoch festgestellt hat, existieren Berührung und Deutung zwar Seite an Seite, aber nicht gleichzeitig. Die Sinneseindrücke geschehen nicht alle auf einmal: Die Feder berührt den Boden einen Augenblick bevor wir ihre Landung erfasst haben.«
»Das ist richtig«, sagte Maddox. »Es dauert einen Moment, selbst wenn es nur Bruchteile von Sekunden sind, bis die Sinneseindrücke unser Gehirn erreicht haben, und noch einmal einen Augenblick, bis die eingetroffenen Signale verarbeitet werden.«
»Genau. Jede Wahrnehmung eines Ereignisses geschieht also unweigerlich den Bruchteil einer Sekunde nach dem Ereignis selbst.«
»Und welche Theorie folgt daraus?«, fragte Marisa.
»Dass es zwei Arten von ›Gegenwart‹ gibt«, warf Doktor Syntax ein. »Mit einem Abstand dazwischen, der als eine Art ›dritte Ebene‹ oder ›Zwischenzeit‹ betrachtet werden kann, in der Dinge geschehen oder sich anbahnen können…«
»Ja«, unterbrach ihn Juda. »Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es diese dritte Zeitebene ist, in der bestimmte Menschen Hinweise auf die Zukunft erhalten.«
»Wie ist das möglich?«, fragte Galen.
»Jeder Übergang braucht Zeit«, erwiderte Juda, »und deshalb ist es unwahrscheinlich, dass die Ereignisse, die sich durch die Zwischenzeit bewegen, als real interpretiert werden. Daher ist die Zwischenzeit für ein durchschnittliches Bewusstsein nicht wahrnehmbar. Was darin existiert, wird niemals mit dem übereinstimmen, was wir auf unserer normalen Bewusstseinsebene wahrnehmen. Zugleich handelt es sich dabei aber auch nicht um das tatsächliche Ereignis, das stattgefunden hat. Es ist weder Berührung noch Deutung, sondern ein dritter Zustand, in dem sich möglicherweise das, was wir Prophetie nennen, ereignen kann.«
»Das ist also die These, mit der Sie Nostradamus, Cayce, Agnes Nutter und all die anderen erklären wollen?«, fragte Marisa.
»Ich habe Nostradamus gekannt«, sagte Maddox. »Er war ein guter Freund von mir. Und Sie sind kein Nostradamus. Ich hatte auch einmal ein Rendezvous mit Agnes Nutter.«
»Ich frage mich immer noch, worin zum Teufel der Zusammenhang besteht«, sagte Galen ärgerlich. »Jedes Mal, wenn ich Sie danach frage, Juda, scheinen Sie in eine andere Richtung zu steuern.«
Juda breitete die Arme aus und schenkte ihm ein Lächeln. »Mein Name ist Legion.«
»Ach, jetzt machen Sie aber mal halblang«, sagte Maddox. »Jeder Schwachkopf kann aus der Bibel zitieren.«
»Sicher«, sagte Juda. »Allerdings benötigt man ein gewisses Talent um zu wissen, wann es angebracht ist.«
»Wir haben es also mit drei Arten von Gegenwart zu tun«, sagte Marisa. »Bedeutet das, dass die Zeit mehrdimensional ist?«
»Die Vorstellung, dass die Zeit mehrere Dimensionen hat, ist oft als Erklärung für die Prophetie ins Feld geführt worden«, sagte Juda. »Das Wesentliche an dieser Idee ist, dass die Zeit – die sich auf lineare Weise zu entfalten scheint, indem die Gegenwart auf die Vergangenheit folgt und die Zukunft auf
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