Die verschollene Symphonie
die ätherischen Doppelgänger sind die so genannten externalisierten Erscheinungen. Diese haben ihren Ursprung im Geist ihres Schöpfers und entstehen durch dessen enorme Konzentrationsfähigkeit, Vorstellungsvermögen, oder, wie Sie es genannt haben, Willenskraft.«
»Der Freund, der nur in der Vorstellungswelt des Kindes existiert hat, wird Wirklichkeit«, sagte Marisa. »Ich habe Berichte darüber gelesen. Allerdings werden diese Erscheinungen im Allgemeinen einer Geistesstörung zugeschrieben.«
»Das Phänomen gibt es wirklich«, sagte Maddox. »Angeblich wird es im Fernen Osten praktiziert, in Ländern wie Indien. In einigen europäischen Mythologien wird es als Fetch oder auch Fylgja bezeichnet.«
»Da besteht eindeutig ein Zusammenhang, wenn auch eher zu den ätherischen Doppelgängern, von denen ich vorhin berichtet habe«, sagte Juda. »Der Ferne Osten ist sehr wichtig für das, worüber ich spreche«, fuhr er fort. »Ich habe in Tibet gesehen, wie es praktiziert wurde. Dort sind solche Dinge alltäglich und ein Gespenst dieser Art wird tulpa genannt.«
»Ha!«, sagte Maddox. »Das haben Sie sicher in Meru aufgeschnappt.«
»Richtig. Ich habe es von einer Ankoritin namens A erfahren, die früher als Alexandra David-Neel bekannt war. Kennen Sie sie?«
»Ich fürchte, sie ist nach mir dort eingetroffen. Allerdings haben wir über sie geredet und ich habe sie schon einmal gesehen – zweimal sogar.«
»Wirklich?«, sagte Juda. »Wo war das?«
»In Wien«, erwiderte Maddox. »Einmal kurz an einem milden Sommerabend, und am nächsten Tag beim Begräbnis eines gemeinsamen Freundes. Ich habe mit ihr jedoch nie über tibetanischen Mystizismus geredet.«
Juda warf Maddox einen abschätzenden Blick zu und fuhr dann fort. »Ich hatte schon vor meiner Begegnung mit ihr über diese tulpas gelesen und sie faszinierten mich. Eine tulpa wird üblicherweise von einem erfahrenen Magier oder Yogi erzeugt. In manchen Fällen soll sie aber auch aus der gebündelten Vorstellungskraft abergläubischer Dorfbewohner entstanden sein oder durch Reisende, die einen düsteren Teil des Landes durchqueren. Die Tibetaner behaupten, dass eine tulpa mitunter so stark sein kann, dass sie selbst eine zweite Erscheinung hervorruft, die als yang-tul bekannt ist. Und diese könnte schließlich eine Erscheinung dritten Grades schaffen, ein nying-tul.«
»So, wie Sie es in Wien getan haben«, sagte Galen.
»Genau. Anscheinend habe ich ein Talent dafür, mich selbst zu verdoppeln. Es gibt nur selten Meister, die in der Lage sind, solche mehrfachen Erscheinungen hervorzubringen, und dabei handelt es sich meist um buddhistische Heilige oder Bodhisattvas. Manche von ihnen sind sogar in der Lage, bis zu zehn verschiedene Arten von tulpas zu erzeugen.«
»Verschiedene Arten oder verschiedene Abbilder?«
»Verschiedene Arten. Die Anzahl der Abbilder ist lediglich von der Willenskraft abhängig. Aber verschiedene Arten von tulpas zu erschaffen, das ist schon weitaus schwieriger. Ein Meister kann jede Art von lebenden Wesen erscheinen lassen – Menschen, Tiere oder Phantasiegeschöpfe. Für die dazu notwendige Ausbildung reichte meine Zeit jedoch bei weitem nicht aus.«
»Haben Sie es jemals versucht?«, fragte Marisa.
»Ja«, erwiderte Juda und warf ihr einen sonderbaren Blick zu. »Ja, das habe ich. Die Ankoritin, die in Meru meine Lehrerin war – A –, hat vierzehn Jahre lang in Tibet bei mehreren angesehenen Lamas den tantrischen Buddhismus studiert, bevor sie eine Eingeweihte Merus wurde und ihre Technik dort noch einmal verfeinerte. Es war an einem Abend, nicht lange nachdem ich mit meinen beiden Gefährten auf Meru gestoßen war, als ich sie danach fragte. Sie willigte ein, mir von ihrer ersten Erfahrung mit einer tulpa zu erzählen. Trotz ihrer Studien und des Wohlwollens, das man ihr in ganz Tibet entgegengebracht hatte, hatte sie nur selten solche Gedankengestalten beobachten können. Deshalb brachten ihre gewohnheitsmäßige Ungläubigkeit und Skepsis sie dazu,selbst Experimente durchzuführen. Es dauerte mehrere Monate, doch schließlich wurden ihre Mühen belohnt. Für ihr erstes Experiment hatte sie sich einen unscheinbaren Mann aus ihrem Bekanntenkreis ausgesucht: einen Mönch, klein, dick und eher harmlos. Sie zog sich in die Abgeschiedenheit der Meditation zurück und ging daran, die nötige Gedankenbündelung und andere Riten zu vollziehen. Nach einigen Monaten nahm der Phantommönch Gestalt an und wurde allmählich
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