Die verschollene Symphonie
werden?«
»Manche Physiker vertreten die Theorie, dass alle Ereignisse als geistige Muster existieren, die nicht den Zwängen der Zeit unterworfen sind und zu denen jedes lebende und nicht lebende Teilchen im Universum in Beziehung steht. Diese Vorstellung ist dem alten Glauben verpflichtet, dass das Universum – der Makrokosmos – unzählige Mikrokosmen enthält, die alle im Kleinen die Merkmale und Strukturen des großen Ganzen wiederholen. Wenn man diesen Gedanken logisch weiterführt, ist der Mensch selbst ein Mikrokosmos, so wie auf einer niedrigeren Stufe jedes Wesen und jedes Ding. Am besten hat dies ein Mathematiker und Philosoph des 17. Jahrhunderts namens Baron Gottfried Wilhelm von Leibniz zusammengefasst…«
»Ich kenne diese Diskussion«, sagte Maddox. »Er hat gesagt, dass ›… all die verschiedenen Klassen von Wesen, deren Inbegriff das Universum ausmacht, in den Ideen Gottes, der ihre wesentlichen Abstufungen distinkt erkennt, nur ebenso viele Koordinaten ein und derselben Kurve sind. Die Einheit dieser Kurve duldet es nicht, dass man zwischen zwei Koordinaten irgendwelche anderen als die wirklich vorhandenen einschiebt, da dies Unordnung und Unvollkommenheit bezeugen würde.‹«
Juda blickte Maddox überrascht an. »Sie können Leibniz zitieren?«
»Ich kann eine Menge Leute zitieren«, sagte Maddox.
»Nun gut«, sagte Juda. »Leibniz’ These bestand darin, dass die verschiedenen Ordnungen lebender und nicht lebender Wesen und Objekte sich stufenförmig in ihren Eigenschaften und Merkmalen einander annähern und somit im Grunde eine einzige Kette bilden, deren Glieder so eng miteinander verbunden sind, dass man unmöglich bestimmen kann, an welchem Punkt eines aufhört und das nächste beginnt.«
»Und eine Verbindung zu einem Glied dieser Kette bedeutet eine Verbindung zu allen«, sagte Doktor Syntax, »lebendig oder nicht.«
»Genau«, sagte Juda. »Und eine solche Verbindung würde Leibniz zufolge bedeuten, dass jemand, der über genug Wissen verfügt, ›im Gegenwärtigen das erkennt, was sowohl den Zeiten wie den Orten nach entfernt ist‹.«
»Das ist zwar interessant, klingt aber nicht unbedingt nach einer vertretbaren Lösung. Wie sollte eine solche Verbindung hergestellt werden?«, fragte Marisa.
»Genau diese Frage habe ich mir auch gestellt«, sagte Juda. »Ebenso wie ein Mathematiker und Physiker an der Universität von Cambridge mit Namen Adrian Dobbs. Er hat die Theorie aufgestellt, dass die Ereignisse bei ihrer Entfaltung nur eine relativ kleine Anzahl von den Möglichkeiten der Veränderung, die auf der subatomaren Ebene existieren, tatsächlich verwirklichen. Dabei entstehen Störungen, die in einer anderen Zeitdimension etwas hervorrufen, das Dobbs ›psitronische Wellen‹ genannt hat. Diese Wellen können von den Neuronen des Gehirns erfasst werden – zumindest bei besonders empfänglichen Menschen – und auf bewusster und unbewusster Ebene die Reaktion des Betrachters auf ein bestimmtes Ereignis beeinflussen. Eine Welle, die groß genug ist, kann sogar auf andere Ereignisse einwirken und ihren Einfluss verwischen. Sie könnte, wenn man sie in die richtige Richtung lenkt, sogar den Beobachter selbst vollkommen verändern.«
»Das klingt ziemlich haarsträubend«, sagte Galen.
»Ist es aber nicht«, sagte Juda. »Sie waren das Versuchsobjekt, das die Theorie bewiesen hat. Oder glauben Sie etwa, Sie hätten aus eigenem Antrieb die Persönlichkeit Hagens angenommen und Ihren Kollegen umgebracht?«
»Lassen Sie es mich mit Hilfe einer Metapher erklären«, sagte Juda. »Stellen Sie sich einen Teich vor. An einem Ufer wird ein Papierboot aufs Wasser gesetzt, am anderen Ufer steht ein sehr kleiner Mensch. Er kann das Schiff zwar nicht sehen, doch während das Schiff sich vorwärts bewegt, erzeugt es Wellen, die an dem Ufer ankommen, an dem er steht. Auf ihrem Weg über den Teich passieren die Wellen bestimmte Gegenstände – Treibholz, Katzenschwänze, eine Leiche –, die feststehend sind oder langsam über die Oberfläche treiben. Die Gegenstände verursachen also Störungen in den Wellen, die der kleine Mensch, der lebenslange Erfahrung darin hat, in allen Einzelheiten wahrnehmen kann. Das, was er über die Wellen erfährt, vermittelt ihm nicht nur ein Bild der Gegenstände, die sie erzeugt haben, sondern ermöglicht ihm auch zu berechnen, wann diese an das Ufer angeschwemmt werden.«
»Dafür braucht man sicher eine Menge Erfahrung«, sagte
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