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Die verschollene Symphonie

Die verschollene Symphonie

Titel: Die verschollene Symphonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A. Owen
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immer stabiler und lebensechter. Er gewann mehr und mehr an Substanz und wurde schließlich zu einer Art Gast, der in ihrem Haus wohnte.«
    »Aber er war trotzdem nur für sie sichtbar, oder?«, fragteMarisa.
    »Das war es, was sie herausfinden wollte«, erwiderte Juda. »Als sie sich seiner scheinbar realen Existenz einigermaßen sicher war, brach sie mit ihrer zurückgezogenen Lebensweise und begab sich mit ihren Bediensteten und einigen Zelten auf eine Reise durch das Land – ein Ausflug, an dem auch der Mönch teilnahm. Obwohl sie im Freien lebte und jeden Tag mehrere Kilometer auf dem Pferderücken zurücklegte, blieb die Illusion bestehen. Die Reisegesellschaft war groß, und sie konnte nicht immer Sichtkontakt mit dem Mönch halten, dennoch verschwand er nicht. Dann stellte sie fest, dass sie nicht einmal mehr an ihn denken musste, um seine Erscheinung aufrechtzuerhalten. Der Phantommönch vollführte verschiedene Handlungen, wie sie Reisende normalerweise verrichten, die sie ihm jedoch nicht befohlen hatte. Er bewegte sich, blieb stehen, blickte sich um. Die Illusion war größtenteils visueller Natur, aber wenn sie in seiner Gesellschaft war, hatte sie manchmal das Gefühl, als würde sie tatsächlich eine Robe streifen, und einmal glaubte sie zu spüren, wie eine Hand ihre Schulter berührte. Zuweilen fragte sie sich sogar, wer von ihnen beiden der wirkliche Mensch sei.«
    »Der Traum des Roten Königs«, sagte Galen, »aus Alice im Wunderland. Ist der Mönch wirklich und träumt von ihr, oder ist sie diejenige, die von ihm träumt?«
    »Es war tatsächlich eine Frage, die sich ernsthaft stellte. Denn sie hatte ihn zwar erschaffen, doch danach veränderte er sich allmählich. Die Merkmale, die sie bei der Erschaffung ihres Phantoms vor Augen gehabt hatte, wandelten sich nach und nach. Der dicke, pausbäckige Mann wurde schlanker und sein Gesicht nahm einen leicht spöttischen, verschlagenen und boshaften Ausdruck an. Er wurde immer unfreundlicher und selbstbewusster. Kurz gesagt, er hatte sich ihrer Kontrolle entzogen.«
    »Ein imaginärer Spielgefährte, der ein Eigenleben zu entwickeln beginnt«, sagte Marisa. »Eine erschreckende Vorstellung.«
    »In der Tat«, sagte Juda. »Keiner der Bediensteten hatte ihn bemerkt, bis er sich zu verändern begann. Dann behandelten sie ihn, als sei er ein wirklicher, lebender Lama. Diese Aussicht jagte A Angst ein. Zwar wollte sie den Prozess nicht unterbrechen, doch bereitete ihr seine sich verdichtende Gegenwart ständig Sorge. Außerdem war sie auf dem Weg zur Hauptstadt Lhasa und befürchtete, dass die Anwesenheit so vieler Menschen um sie herum es ihr unmöglich machen würde, ihn zu kontrollieren oder im Auge zu behalten. Also beschloss sie, den Phantommönch aufzulösen. Das gelang ihr auch, aber erst nach sechs Monaten Konzentration und mühsamen Kampfes.«
    »Hartnäckig, was?«, fragte Galen.
    »Das kann man wohl sagen«, sagte Juda.
    »Was wäre passiert, wenn sie der Sache ihren Lauf gelassen hätte?«, fragte Marisa. »Hätte er sich weiter verändert?«
    »Ich schätze schon«, antwortete Juda. »Sie hat versucht eine tulpa zu schaffen, ausgehend von dem Mönch, den sie kannte. Aber sie hat den Mönch nicht noch einmal erschaffen. Als er Wirklichkeit wurde, begann er eigene Erfahrungen zu machen und hat sich dementsprechend verändert.«
    »Was wäre geschehen, wenn sie versucht hätte, den Mönch zu verdoppeln? Wäre ein Zwilling entstanden? Oder ein Klon?«
    »Das habe ich mich auch schon gefragt«, sagte Juda. »Ich habe deshalb Nachforschungen angestellt und herausgefunden, dass die Antwort in der Physik zu finden ist, genauer gesagt in der physikalischen Größe der Zeit. Tulpas von mir selbst zu erschaffen war einfach, da ich es nicht darauf abgesehen hatte, ihnen dauerhafte Substanz zu verleihen. Doch als ich es schließlich in die Tat umsetzte, glich die Erscheinung zunächst eher einem Klon meiner selbst, später dann einem Zwilling, denn bis zu ihrer Erschaffung war sie mit mir identisch. Danach begann sie die Welt als eigenständiges Wesen wahrzunehmen, so wie ein Zwilling.«
    »Verstehe«, sagte Marisa. »Zwillinge sind zwar vom genetischen Material her identisch, aber ihre Identität wird durch Erfahrung erzeugt, durch die sie sich notwendigerweise voneinander unterscheiden. Doch wenn ein Klon die Erinnerungen des Originals besitzt, beginnt dieser Prozess erst, wenn er zu einem eigenständigen Wesen wird.«
    »Genau. Ich habe mich also

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