Die verschollenen Tagebücher des Adrian Mole
dadurch aus dem Schlaf. Aus irgendeinem Grund rechne ich ständig damit, im Morgengrauen von der Polizei abgeholt zu werden, obwohl ich absolut überhaupt nichts getan habe. Clive hatte keinen richtigen Brief für mich, nur einen bunten Umschlag, der mich mit zahlreichen fetten Ausrufezeichen darüber informierte, dass ich 1.000.000 £ gewonnen habe.
Etwas gereizt sagte ich: »Hätten Sie mir das nicht einfach durch den Briefschlitz stecken können?«
»Entschuldigung«, murmelte Box, »aber ich wollte Sie was Wichtiges fragen.«
Hinter Box’ uniformiertem Rücken konnte ich sehen, dass die Siedlung von Reif überzogen war. Box schielte sehnsüchtig nach dem Heizkörper im Flur. Ich bat ihn herein und schloss die Haustür, und er stellte seinen Postsack auf den Fußboden und blies sich in die Hände. Dann betrachtete er das Selbstbildnis Van Goghs an der Wand.
»Wer ist das denn? Ihr Opa?«, wollte er wissen.
»Nein!«, sagte ich. »Das ist Van Gogh, dessen Genie zu Lebzeiten unerkannt blieb. Er verkaufte nur ein einziges seiner Gemälde, bevor er starb.«
»Das überrascht mich nicht«, meinte Clive Box, nachdem er Van Goghs gequälte Miene näher studiert hatte. »Ein hässlicher Sack.«
Der Flur ist winzig, und wir standen zu dicht beieinander. Also ging ich voran in die Küche und steckte den Wasserkocher ein. Box setzte sich an den Tisch und sagte: »Sie sind doch ein gebildeter Mann, Mr Mole, oder?«
Ich entgegnete, ja, ich sei Autodidakt.
»Ihr Sexleben interessiert mich nicht«, gab er zurück, »aber mir sind die Briefe von den Buchklubs aufgefallen, deshalb hab ich mich entschieden, Sie um Hilfe zu bitten. Sprechen Sie Französisch?«
»Mais oui«, antwortete ich.
Er zog ein Blatt Papier aus seiner Uniformtasche und schob es über die Tischplatte. »Wie spricht man das aus?«, fragte er und klopfte mit einem Wurstfinger auf ein Wort in Großbuchstaben mitten in einem Absatz. Ich betrachtete es. Es war mir fremd.
»CONSIGNIA.« Ich sprach es laut und langsam aus. »Consig-nia.«
Daraufhin wiederholte er es viele Male, wie ein Kleinkind, das das Wort Rhinozeros lernt. »Und was heißt das?«, fragte er schließlich.
Ich teilte ihm mit, dass ich keine Ahnung hätte, und las den Zettel vor mir durch. Darin stand, dass die Postbehörde sich selbst einen »modernen und aussagekräftigen Namen« gegeben habe. Und dass die Begriffe »Post« und »Behörde« die Arbeit nicht mehr zutreffend beschrieben, die von dieser Organisation ausgeführt werde.
Zutiefst verwirrt sah Box mich an. »Dann bin ich jetzt also kein Postbote mehr?«, fragte er.
»Offenbar nicht«, entgegnete ich. »Sie sind jetzt ein consignée .«
Mittwoch, 17. Januar
Im Zug nach London, um meine Mutter im Gefängnis Holloway zu besuchen, fiel mir auf, dass der Schaffner ein Schild mit der Aufschrift »Roger Morris, Einnahmenschutzbeamter« trug.
Meine Mutter war bester Laune. Sie hat sich mit ihrer Zellengenossin angefreundet, einer Frau namens Yvonne, die in Haft ist, weil sie keine Fernsehgebühren bezahlt hat. Ihre Verteidigung – dass sie nie BBC1 oder BBC2 einschaltete – ließ das Gericht nicht gelten. Meine Mutter zeigte mir Yvonne am anderen Ende des Besuchsraums.
Yvonne merkte, dass wir sie ansahen, und warf meiner Mutter eine Kusshand zu.
Meine Mutter erwiderte die Geste!
»Du und Yvonne, ihr scheint euch sehr gern zu haben«, sagte ich zu meiner Mutter.
Sie sah mir direkt in die Augen und erwiderte: »Ja, wir haben uns sehr, sehr, sehr gern.«
Daraufhin musterte ich Yvonne eingehender. Sie sieht aus wie Diana Dors, der Schwarz-Weiß-Filmstar.
Verstört taumelte ich durch das Gefängnistor – hat meine Mutter sich auf lesbische Liebe verlegt? So wie sie sich früher mal auf Badminton und Feminismus verlegt hat? Und wenn ja, wird sie bald wieder die Lust daran verlieren, so wie an den genannten Hobbys?
Samstag, 27. Januar
Arthur Askey Way
Glenn wird dieses Jahr 14. Zwar eigentlich erst in ein paar Monaten, aber sein Geschenk bekommt er gezwungenermaßen schon etwas früher. Mohammed, dessen Bruder bei der Eisenbahn arbeitet, schenkte mir letzte Woche zwei Gutscheine für den Eurostar nach Paris mit den Worten: »Nimm du die, Aidy. Ich trau mich nicht, das Land zu verlassen. Ich hab Schiss, dass mich die Einwanderungsbehörde hinterher nicht wieder reinlässt.«
»Mohammed«, sagte ich, »du bist in der Entbindungsstation der Uniklinik Leicester geboren, du sprichst mit starkem Leicester-Akzent, du
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