Die Verschwoerung von Whitechapel
lag Besorgnis. »Ist seinen Angehörigen etwas zugestoßen?«
»Nein!«, gab Tellman rasch zur Antwort, angenehm berührt von einem plötzlichen Gefühl der Normalität, eines Lebens, in dem es Zuneigung gab und die außerhalb herrschende Dunkelheit etwas Vorläufiges war, das man beherrschte.
»Nein, aber ich habe etwas erfahren, was ich ihm sofort sagen muss. Es tut mir Leid, Sie zu stören«, fügte er hinzu.
Karansky öffnete die Tür weiter. »Kommen Sie herein«, sagte er. »Sein Zimmer ist im oberen Stockwerk. Möchten Sie etwas essen? Wir haben – « Dann hielt er verlegen inne.
Vielleicht hatten sie nur sehr wenig.
»Nein, danke«, lehnte Tellman ab. »Ich habe vorhin schon gegessen.« Das entsprach zwar nicht der Wahrheit, aber das war unerheblich. Man musste die Würde wahren.
Auch wenn Karansky das möglicherweise nicht beabsichtigt hatte, ließ sich die Erleichterung seiner Stimme anhören. »Dann gehen Sie am besten gleich zu Mr. Pitt hinauf. Er ist seit einer halben Stunde da. Manchmal spielen wir ein wenig Schach oder unterhalten uns, aber heute ist er später als sonst gekommen.« Es sah so aus, als wollte er noch etwas hinzufügen, überlegte es sich dann aber wohl anders. Tellman spürte, dass der Mann besorgt war, als rechne er mit etwas Gefährlichem und Widerlichem, gegen das man sich innerlich wappnen müsse. Musste man hier etwa immer auf den Ausbruch von Gewalt gefasst sein? Was für ein Leben war das, wenn man sicher sein durfte, dass gleich die nächste Katastrophe über die Menschen hereinbrechen würde, und die einzige Unsicherheit darin bestand, dass man nicht wusste, wie sie aussah?
Tellman dankte ihm und ging über die schmale Treppe nach oben. Dort klopfte er an die Tür, die ihm Karansky bezeichnet hatte.
Pitts ›Herein‹ klang geistesabwesend, als sei ihm klar, wer da komme, und als rechne er mehr oder weniger damit.
Tellman öffnete.
Pitt saß mit hängenden Schultern tief in Gedanken auf dem Bett. Er sah noch unordentlicher aus als sonst. Sein viel zu langes ungekämmtes Haar hing ihm über den Kragen, aber seine Manschetten waren sauber geflickt, und auf der Kommode lag ein Stapel ordentlich gebügelter frischer Wäsche.
Als Tellman wortlos die Tür schloss, merkte Pitt, dass nicht Karansky hereingekommen war, wie er wohl erwartet hatte, und wandte sich um. Zuerst trat Verblüffung auf sein Gesicht, dann Besorgnis.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte Tellman rasch. »Doch ich habe etwas erfahren, was ich Ihnen sofort berichten muss. Es
ist …« Er strich sich mit der Hand über das Haar, das wie immer glatt nach hinten gekämmt war. »Genau genommen ist nicht alles in Ordnung.« Er merkte, wie er zitterte. »Es handelt sich um das … das größte … das abscheulichste und schrecklichste Verbrechen, von dem ich je gehört habe, wenn sich die Dinge so verhalten, wie man mir berichtet hat. Und es wird alles mit sich in den Abgrund reißen.«
Bei Tellmans Bericht wich die letzte Farbe aus Pitts Gesicht. Reglos vor Entsetzen saß er da, bis er unbeherrscht zu zittern begann, als wäre die Kälte in seinen Körper gedrungen.
Kapitel 10
Z war war es fast schon Mitternacht, als Tellman in der Keppel Street eintraf, aber er musste Gracie und Charlotte unbedingt mitteilen, was er wusste, und am nächsten Morgen würde er keine Gelegenheit dazu haben. Diese unvorstellbare Verschwörung war wichtiger als das Wohlergehen oder die Sicherheit eines einzelnen Menschen. Den beiden Frauen diese Dinge vorzuenthalten würde niemandem nützen. Nichts, was er oder Pitt sagte, konnte sie daran hindern, weiter der Wahrheit nachzuforschen und sich damit in Gefahr zu bringen. Die Hingabe an Pitt wie auch das Gefühl für Gerechtigkeit war bei beiden weit stärker ausgeprägt als die Bereitschaft, sich zu fügen, und daher war es unerlässlich, dass sie zumindest wussten, womit sie es zu tun hatten.
Außerdem konnten sie möglicherweise helfen. Das sagte er sich, während er auf der Schwelle stand und den Blick zu den hohen dunklen Fenstern hob. Er war Polizeibeamter, ein Bürger des Landes, dem eine Welle von Gewalttätigkeit drohte, von der es sich unter Umständen über Jahre nicht erholen würde, und selbst dann noch wäre möglicherweise ein großer Teil dessen dahin, was seine Identität ausmachte und was es aus der Vergangenheit an Bewahrenswertem übernommen hatte. Die Sicherheit zweier Frauen, auch wenn er eine von ihnen bewunderte und die andere liebte, war da
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