Die Verschwoerung von Whitechapel
Wie viele gewöhnliche Menschen, die jetzt ihren täglichen Verrichtungen nachgingen, würden all dessen beraubt, was sie kannten? Zwar würde eine Revolution andere Machthaber nach oben spülen, aber auf keinen Fall für mehr Nahrung, Unterkunft, Kleidung oder menschenwürdige Arbeit sorgen, würde nichts Dauerhaftes bewirken, was das Leben sicherer machte oder es bereicherte.
Wer würde die neue Regierung bilden, wenn die alte dahin war? Wären diese Männer zwangsläufig klüger oder gerechter?
Er stieg aus und ging die Stufen zum Guy’s Hospital hinauf. Jetzt blieb keine Zeit zu verlieren. Sobald Remus seiner Ansicht nach genug Material hatte, würde er es veröffentlichen. Dafür
würde der Mann im Regent’s Park, der ihn auf die Fährte gesetzt hatte, schon sorgen.
Wer mochte das sein? Remus hatte gesagt, er wisse es nicht. Tellman blieb nicht genug Zeit, dem nachzugehen, aber das Motiv des Mannes war unübersehbar: Revolution in England, das Ende aller Sicherheit, wenn nicht gar des Friedens, der einer solchen Situation bei aller Ungerechtigkeit vorzuziehen war.
Es kostete Tellman den Rest des Tages, sich ein Bild von dem inzwischen verstorbenen Leibchirurgen der Königin Sir William Gull zu machen. Aus den Gesprächen mit einem halben Dutzend Menschen, die ihm mitteilten, was sie über ihn wussten, schälte sich allmählich heraus, dass er kein anderes Ziel gekannt hatte, als sich ein möglichst umfangreiches medizinisches Wissen anzueignen, insbesondere über Aufbau und Funktionsweise des menschlichen Körpers. Der Drang zu lernen schien ihn stärker angetrieben zu haben als der Wunsch zu heilen, und sein persönlicher Ehrgeiz war deutlich ausgeprägter als sein Bedürfnis, das Leiden von Mitmenschen zu lindern.
Der Bericht über einen bestimmten Fall erschütterte Tellman besonders. Gull hatte beschlossen, an einem verstorbenen Patienten eine Obduktion vorzunehmen. Da der älteren Schwester des Mannes daran gelegen war, dass der Leichnam nicht verstümmelt wurde, bestand sie darauf, dabei anwesend zu sein.
Gull hatte bei der Obduktion vor ihren Augen das Herz des Mannes herausgenommen und in die Tasche gesteckt, um es mitzunehmen. In dieser Handlungsweise sah Tellman eine unvorstellbare Grausamkeit und eine völlige Missachtung der Empfindungen von Patienten und deren Angehörigen.
Zweifellos aber war Gull ein guter Arzt gewesen, zu dessen Patienten nicht nur die königliche Familie gehört hatte, sondern auch Lord Randolph Churchill mit seinem Haushalt.
Schriftliche Unterlagen über Annie Crooks Aufenthalt im Guy’s Hospital waren nicht aufzufinden, doch erinnerten sich drei Mitarbeiter deutlich an sie und sagten, Sir William habe einen Eingriff an ihrem Gehirn vorgenommen, nach dem sie sich an kaum etwas erinnerte. Nach Ansicht dieser Menschen
hatte sie sicherlich unter irgendeiner Art geistiger Störung gelitten, zumindest am Ende der hundertsechsundfünfzig Tage ihres Aufenthaltes dort.
Niemand wusste, was aus ihr geworden war. Eine ältere Krankenschwester sagte kummervoll, sie sei nach wie vor empört über das Schicksal dieser jungen Frau, der sie in ihrer Verzweiflung und Verwirrung nicht hatten helfen können.
Tellman verließ das Krankenhaus kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Er konnte auf keinen Fall länger warten. Auf die Gefahr hin, Pitts Auftrag in Spitalfields zu gefährden, den er ohnehin für weitgehend sinnlos hielt, musste er ihn auf jeden Fall aufsuchen und ihm mitteilen, was er wusste. Es war weit entsetzlicher als jeder anarchistische Plan, das eine oder andere Gebäude in die Luft zu jagen.
Tellman fuhr mit der Bahn bis zur Aldgate Street und ging dann rasch durch die Whitechapel High Street und die Brick Lane bis zur Ecke der Heneagle Street. Es war durchaus möglich, dass ihn Wetron auf die Straße setzte, wenn er erfuhr, was er dort tat, aber hier ging es um mehr als die berufliche Laufbahn eines Einzelnen, ganz gleich, ob seine oder die Pitts. Er klopfte an die Tür der Karanskys und wartete.
Es dauerte eine Weile, bis ein Mann, den er im düsteren Licht kaum sehen konnte, die Tür eine Handbreit öffnete. Tellman konnte vor dem dunklen Hintergrund nur den Umriss des Kopfes und der Schultern erkennen. Der Mann hatte dichtes Haar und hielt sich ein wenig gebeugt.
»Mr. Karansky?«, fragte Tellman leise.
Misstrauisch kam die Gegenfrage: »Wer sind Sie?«
Entschlossen sagte Tellman: »Wachtmeister Tellman. Ich muss mit Ihrem Mieter sprechen.«
In Karanskys Stimme
Weitere Kostenlose Bücher