Die Verschwoerung von Whitechapel
saß und nicht von mörderischen Höflingen bewacht in einem Palast, ein Diener des Throns und Herr über nichts.
»Aber warum die fünf Frauen?«, fragte er schließlich. »Dafür muss es doch einen Grund gegeben haben.«
»Hat es auch«, versicherte ihm Remus. »Genau die wussten über die Sache Bescheid, denn sie waren gute Freundinnen von Annie gewesen. Wenn sie geahnt hätten, was da auf sie zukam, hätten sie sich aus dem Staub gemacht. Aber sie ahnten es nicht. Es heißt, dass sie habgierig waren, zumindest eine von ihnen, und die soll die anderen aufgestachelt haben. Sie haben von Sickert Geld für ihr Stillschweigen verlangt. Er hat das weitergemeldet, und dann haben die Frauen auch Gelegenheit für ihr Stillschweigen bekommen – das eines blutgetränkten Grabes.«
Tellman barg das Gesicht in den Händen und saß bewegungslos da. Sein Inneres war in Aufruhr. Konnte diese entsetzliche Geschichte auf Wahrheit beruhen, oder hieß der eigentlich Geisteskranke Lyndon Remus?
Er hob langsam den Blick und ließ die Hände sinken.
Als könnte Remus seine Gedanken lesen, fragte er: »Sie halten mich wohl für verrückt?«
Tellman nickte. »Ja …«
»Ich kann nichts von all dem beweisen – vorerst. Aber das kommt schon noch. Es stimmt alles. Sehen Sie sich doch die Tatsachen an.«
»Das tue ich. Die beweisen nichts. Warum hat sich Stephen zu Tode gehungert?«
»Er hat die beiden miteinander bekannt gemacht. Der arme Eddy konnte ziemlich gut malen. Dafür genügten seine Augen, und er musste nichts hören. Stephen war ihm sehr zugetan.« Er zuckte die Achseln. »Vielleicht war er sogar in ihn verliebt. Auf jeden Fall hat es ihm den Rest gegeben, als er hörte, dass Eddy tot war. Gott weiß, was er gedacht haben mag. Vielleicht hat er sich schuldig gefühlt, vielleicht auch nicht. Möglicherweise war es nur der Kummer. Es hat mit der Geschichte nichts zu tun.«
»Und wer hat die Frauen umgebracht?«, hakte Tellman nach.
Remus schüttelte leicht den Kopf. »Das weiß ich nicht. Ich vermute, Sir William Gull, der königliche Leibchirurg.«
»Und Netley hat die Kutsche durch Whitechapel gefahren, Ausschau nach ihnen gehalten, damit Gull sie in Stücke schneiden konnte?« Während Tellman diese Frage stellte, zitterte er trotz der warmen Gaststube vor innerer Kälte. Der Albtraum war übermächtig.
Wieder nickte Remus. »In der Kutsche. Deswegen hat man auch nie viel Blut gesehen und ihn nie auf frischer Tat ertappt.«
Tellman schob den Krug mit dem restlichen Bier beiseite. Die Vorstellung, etwas zu essen oder zu trinken, war ihm unerträglich geworden.
»Wir brauchen nur noch die letzten Einzelheiten«, fuhr Remus fort, der sein Glas ebenfalls nicht anrührte. »Ich muss mehr über Gull erfahren.«
»Der ist tot.«
»Das weiß ich.« Remus beugte sich vor. Das Stimmengewirr um sie herum wurde immer lauter, sodass es schwer war, etwas zu verstehen. »Aber das ändert nichts an der Wahrheit. Ich muss jede nur mögliche Tatsache ermitteln. Alles Spekulieren hilft nichts ohne unwiderlegbare Fakten.« Er sah Tellman aufmerksam an. »Und Sie haben Zugang zu Dingen, die mir verschlossen sind. Die Leute, die mit der Geschichte zu tun haben, kennen mich und sagen mir nichts mehr. Ich habe keinen Vorwand, die Sache weiter zu verfolgen.« Er nickte. »Aber Sie haben die Möglichkeit! Sie könnten sagen, dass es mit einem
Ihrer Fälle zusammenhängt, und die Leute würden Ihnen Auskunft geben.«
»Was brauchen Sie noch, und wozu?«, wollte Tellman wissen. »Und was werden Sie mit all dem Material anfangen, wenn Sie es haben, vorausgesetzt, Sie bekommen es zusammen? Damit zur Polizei zu gehen hat keinen Sinn. Gull ist tot, Abberline und Warren sind pensioniert. Geht es Ihnen um den Kutscher?«
»Mir geht es um die Wahrheit, ganz gleich, in welche Richtung sie weist«, sagte Remus mit finsterer Entschlossenheit. Ein breitschultriger Mann blieb in ihrer Nähe stehen, und Remus wartete, bis er gegangen war. Dann fuhr er fort: »Ich will an den Mann heran, der dahinter steht, von dem die anderen ihre Aufträge bekommen haben. Schon möglich, dass er nie auch nur in die Nähe von Whitechapel gekommen ist, aber er ist die Triebfeder hinter Jack the Ripper. Die anderen waren nur Handlanger.«
Tellman musste die Frage stellen. Noch immer hörte er die Geräusche des Alltagslebens um sie herum – Unterhaltung, Gelächter, das Klirren von Gläsern, das Scharren von Füßen, das Gluckern von Bier. Alles schien so normal
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