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Die Verschwoerung von Whitechapel

Die Verschwoerung von Whitechapel

Titel: Die Verschwoerung von Whitechapel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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habe ihn nie für einen Geldverleiher gehalten. Er steht an der Spitze einer Gruppe von Juden, die sich um ihre Glaubensbrüder kümmern. Dabei geht es nicht um das Geschäft, sondern um Wohltätigkeit.«
    Pitt war verblüfft, als er merkte, dass Narraway davon wusste. Seine Anspannung ließ ein wenig nach.
    »Harper glaubt, dass er ihm die Sache in die Schuhe schieben kann. Es wird von Stunde zu Stunde gefährlicher für ihn«, sagte er mit Nachdruck. »Man wird ihn festnehmen, wenn sie auch nur ein einziges weiteres Indiz gegen ihn konstruieren können. Angesichts der gegenwärtigen antijüdischen Stimmung dürfte das nicht schwer sein.«
    Narraway wirkte müde. In seiner Stimme schwang Enttäuschung. »Warum sagen Sie mir das, Pitt? Meinen Sie etwa, ich wüsste das nicht?«
    Pitt sog scharf die Luft ein, bereit, seinem Gegenüber Untätigkeit, Pflichtverletzung oder gar Ehrlosigkeit vorzuwerfen. Dann aber sah er ihm etwas aufmerksamer in die Augen und erkannte die Desillusionierung des Mannes, die Mattigkeit, die auf eine Vielzahl von Niederlagen zurückging, und er stieß den Atem wieder aus, ohne zu sagen, was ihm auf der Zunge lag. Sollte er ihm die Wahrheit anvertrauen? War Narraway ein Zyniker, ein Opportunist, der sich auf die Seite derer schlagen würde, denen er den Sieg zutraute? Oder war er einfach durch zu viele Verluste, kleine Ungerechtigkeiten und Verzweiflung erschöpft? Womöglich wusste er zu viel über ein Meer von Armut – in unmittelbarer Nachbarschaft immensen Reichtums. Es erforderte einen ganz besonderen Mut weiterzukämpfen, wenn man genau wusste, dass man nicht gewinnen kann.
    »Stehen Sie nicht nutzlos hier herum, Pitt«, sagte Narraway ungeduldig. »Ich weiß, dass die Polizei einen Sündenbock sucht und Karansky sich hervorragend dafür eignet. Die Leute haben es noch nicht verwunden, dass es ihnen nicht gelungen ist, die Morde von Whitechapel vor vier Jahren aufzuklären. Den Mordfall Sissons werden sie unter allen Umständen lösen – auf Biegen oder Brechen, wenn es sein muss. Sie brauchen einen Täter, mit dem sie ihr Ansehen in der Öffentlichkeit aufpolieren können, und dafür ist Karansky genau der Richtige. Ich würde ihn retten, wenn mir das möglich wäre. Er ist ein ordentlicher Mann. Das Beste, was man ihm raten kann, ist, aus London zu verschwinden. Er soll das nächste
Schiff nehmen, das ausläuft, egal wohin, ob nach Rotterdam, Bremen oder sonstwo.«
    Die Gedanken überstürzten sich in Pitts Kopf: War das mit der Ehre vereinbar? Durfte man der Anarchie und Ungerechtigkeit einfach nachgeben? Konnte man noch von Recht sprechen, wenn es so gehandhabt wurde, wie in diesem Fall zu befürchten stand? Seine Bedenken verblassten, bevor er sie formulierte. Bestimmt hatte Narraway all das bereits selbst erwogen. Für Pitt waren diese Fragen neu. Sie erschütterten seinen Glauben an die Grundsätze, die ihn sein Leben lang geleitet hatten, untergruben den Wert von allem, wofür er gearbeitet hatte, erschütterten all seine Annahmen über die Ordnung in der Gesellschaft, als deren Bestandteil er sich ansah. Wenn dem Rechtssystem eines Landes in einer kritischen Situation keine bessere Lösung einfiel, als die Empfehlung an einen grundlos Beschuldigten, er möge davonlaufen – warum sollte dann jemand die Gesetze achten oder ihnen trauen? Die Ideale, die dahinterstanden, waren hohl – klangen hochtrabend, waren aber inhaltslos, von der nutzlosen Schönheit einer schimmernden Seifenblase, die bei der leisesten Berührung platzte.
    Er ließ die Schultern sinken und stieß die Hände in die Taschen.
    »Die haben von Anfang an gewusst, wer der Mörder von Whitechapel ist und was dahinter steckt«, sagte er entschlossen, »haben die Sache aber vertuscht, um den Thron zu schützen.« Er wartete auf Narraways Reaktion.
    Dieser saß reglos da. »Ach, tatsächlich?«, fragte er leise. »Und inwiefern hätte es Ihrer Ansicht nach dem Thron geschadet, wenn der Täter gefasst worden wäre?«
    Es überlief Pitt kalt. Er hatte einen Fehler begangen. Im selben Augenblick war ihm klar, dass Narraway zu den Freimaurern gehörte – wie Abberline, der stellvertretende Polizeipräsident Warren und weiß Gott wer noch … auf jeden Fall Sir William Gull, der Leibchirurg der Königin. Einen Augenblick erfasste ihn Panik, das nahezu unwiderstehliche körperliche Bedürfnis, kehrtzumachen und hinauszulaufen, irgendwo in den grauen Gassen zu verschwinden. Zugleich war ihm klar,
dass er sich auf keinen

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