Die Verschwoerung von Whitechapel
Sie hielt inne.
Churchills Gesicht war aschfahl.
»Ich sehe, dass Sie den Ernst der Lage verstehen«, sagte sie trocken. » Es könnte nicht nur äußerst unangenehm werden, wenn es zu diesen Schließungen kommt, sondern sogar zum Sturz der Regierung und des Throns führen, ohne dass irgendjemand die Möglichkeit hätte, etwas dagegen zu unternehmen.«
»Aber…«, protestierte er.
»Ich bin alt genug, um noch Menschen gekannt zu haben, die Zeugen der Französischen Revolution waren, Randolph«, sagte sie mit eiskalter Stimme. »Auch sie waren überzeugt, so etwas könne keinesfalls geschehen … und sie haben es nicht einmal dann geglaubt, als sie die Schinderkarren über die Straßen rollen hörten.«
Er ließ sich ein wenig zurücksinken, als hätte ihm die Angst die Kraft genommen aufzubegehren. Seine Augen waren weit aufgerissen, sein Atem ging flach. Die schönen glatten Hände auf den polierten Schreibtisch gelegt, blickte er sie aufmerksam an. Zum ersten Mal in ihrem Leben sah sie ihn verstört.
»Glücklicherweise haben wir Freunde«, fuhr sie fort, »von denen einer zufällig eben der ist, der Sissons’ Leiche entdeckt hat. Er war so vorausschauend, die Waffe und den Schuldschein beiseite zu schaffen und den Abschiedsbrief zu vernichten, damit Sissons’ Tod wie Mord aussah. Das aber ist nur eine vorläufige Lösung. Wir müssen dafür sorgen, dass die Fabriken weiterarbeiten und die Männer bezahlt werden.« Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen hielt sie seinem Blick stand. »Ich nehme an, dass Sie Freunde haben, die ebenso denken wie Sie und bereit sind, ihren Beitrag dazu zu leisten. Das wäre eine durchaus aufgeklärte Handlungsweise, die überdies in Ihrem ureigenen Interesse läge – von ihrem Wert als moralische Geste ganz zu schweigen. Wenn die Öffentlichkeit davon erfährt, kann ich mir vorstellen, dass beträchtliche Dankbarkeit die Folge wäre. Beispielsweise hätte der Kronprinz die Möglichkeit, der Held des Tages zu sein und nicht wie sonst der Schurke im Stück. Finden Sie nicht auch, dass darin eine gewisse ironische Verlockung liegt?«
Churchill holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. Er war erleichtert; das war seinem Gesicht anzusehen, obwohl er es zu verbergen versuchte. Wider Willen war er zutiefst beeindruckt, und auch das war zu spüren. Einen Augenblick lang erwog er auszuweichen, so zu tun, als müsse er sich die Sache durch den Kopf gehen lassen, dann aber verwarf er diesen Gedanken als absurd. Ihr wie ihm war klar, dass er es tun würde, weil ihm keine andere Wahl blieb.
»Eine glänzende Lösung, Lady Vespasia«, sagte er so steif, wie es ihm möglich war, hatte jedoch seine Stimme dabei nicht ganz in der Gewalt. »Ich werde dafür sorgen, dass man sie sogleich verwirklicht … bevor größerer Schaden entsteht. Es ist – es ist ein wahres Glück, dass wir einen … Freund … hatten, der diese Wende ermöglicht hat.«
»Und der den Mut hatte zu handeln, obwohl es mit beträchtlicher
Gefahr für ihn selbst verbunden war«, fügte Vespasia hinzu. »Es gibt Menschen, die ihm das Leben äußerst schwer machen werden, wenn sie je davon erfahren sollten.«
Churchill lächelte trübselig, wobei seine Lippen eine schmale Linie bildeten. »Wir denken, dass es nicht dahin kommen wird. Jetzt aber muss ich mich um diese Angelegenheit mit den Zuckerfabriken kümmern.«
»Selbstverständlich. Es gibt keine Zeit zu verlieren.« Ohne ihm zu danken, dass er sie empfangen hatte, stand Vespasia auf. Beiden war klar, dass das mehr in seinem als in ihrem Interesse lag, und sie war nicht bereit, so zu tun, als wenn es sich anders verhielte. Er war ihr nicht sonderlich sympathisch; außerdem verdächtigte sie ihn, in die Morde von Whitechapel verwickelt zu sein. Auch wenn es keine Beweise gab, war sie sich ihrer Sache beinahe sicher. In der gegenwärtigen Situation benutzte sie ihn und wollte keinesfalls den Eindruck erwecken, als verhalte es sich anders. Sie neigte den Kopf leicht, als er die Tür öffnete und sie ihr aufhielt, während sie hinausging.
»Guten Tag«, sagte sie mit einem angedeuteten Lächeln. »Ich wünsche Ihnen Erfolg.«
»Guten Tag, Lady Vespasia«, antwortete er. Er war dankbar, aber nicht etwa ihr, sondern den Umständen, dem gemeinsamen Interesse.
Jetzt blieb noch ein Punkt zu klären, doch noch war sie nicht bereit, sich dieser weit schmerzlicheren Aufgabe zu stellen.
Auf dem Rückweg nach Spitalfields überlegte Pitt hin und her, wie er
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