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Die Verschwoerung von Whitechapel

Die Verschwoerung von Whitechapel

Titel: Die Verschwoerung von Whitechapel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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verhindern konnte, dass irgendein Unbeteiligter für den Mord an Sissons herhalten musste. Er hatte auf den Straßen allerlei Gerüchte darüber gehört, wen die Polizei verdächtigte. Die jüngsten Zeichnungen ähnelten Isaak immer mehr. Es konnte höchstens noch eine Sache von Tagen, wenn nicht von Stunden sein, bis man seinen Namen nannte. Dafür würde Harper sorgen. Die Polizei musste jemanden festnehmen, um den zunehmenden Volkszorn zu besänftigen. Isaak Karansky eignete sich glänzend als Sündenbock. Sein Verbrechen bestand darin, dass er Jude war und sich von anderen unterschied. Er stand an der Spitze einer klar umrissenen Gruppe von Menschen,
die sich um ihre Glaubensbrüder kümmerten. Sissons’ Tod war nichts als ein Vorwand. Zinswucher galt als gemeinsamer Feind. Auch wenn es sich um einen unbewiesenen Vorwurf handelte, saß die Vorstellung seit Jahrhunderten fest in den Köpfen der Menschen, wurde durch Hörensagen überliefert und galt als Wurzel eines Dutzends auf andere Weise nicht erklärbarer Übel.
    In einem Punkt war Pitt im Vorteil: Er war als Erster am Tatort gewesen, und als Zeuge konnte er einen Grund finden, Harper noch einmal aufzusuchen und mit ihm zu sprechen.
    Als er an der Aldgate Street aus dem Zug stieg, hatte er sich bereits entschieden und legte sich genau zurecht, was er sagen wollte.
    Er schritt rasch aus. Wie Vespasia gesagt hatte, dürfte Sissons’ Mörder dem Inneren Kreis angehören. Höchstwahrscheinlich würde sich nie ermitteln lassen, um wen es sich dabei handelte, denn Harper würde alle ihm zu Gebote stehenden Mittel aufbieten, das zu verhindern.
     
    Angst lag in der Luft. Die Menschen waren gereizt, unfähig, sich auf ihre alltäglichen Aufgaben zu konzentrieren. Es kam zu Streit über Nichtigkeiten: falsch herausgegebenes Geld, ein Mann, der einen anderen aus Versehen angerempelt hatte, eine herabgefallene Wagenladung, ein störrischer Gaul, ein ungeschickt abgestelltes Fuhrwerk.
    Mit grimmiger Miene patrouillierten die Streifenpolizisten durch ihr Revier, ihre Schlagstöcke schwangen bei jedem Schritt. Männer und Frauen bedachten sie mit Schimpfworten. Von Zeit zu Zeit schleuderte ihnen ein etwas Wagemutigerer einen Stein oder ein Stück verfaultes Gemüse nach. Kinder jammerten, ohne zu wissen, wovor sie Angst hatten.
    Ein Taschendieb wurde von der Menge gefasst und blutig geschlagen. Niemand trat dazwischen oder rief die Polizei.
    Nach wie vor wusste Pitt nicht, ob er Narraway wirklich trauen konnte, doch gab es vielleicht eine Möglichkeit, etwas von ihm zu erfahren, ohne dabei selbst etwas preiszugeben. Der Mann konnte dem Inneren Kreis angehören oder Freimaurer sein. Was wusste Pitt, ob er nicht zu allem bereit war, um die
bestehende Ordnung und die gegenwärtigen Machtverhältnisse zu bewahren und den Thron zu schützen. Ebenso war es möglich, dass er keins von beiden war, sondern lediglich das, was er zu sein behauptete: ein Angehöriger des Sicherheitsdienstes, der sich bemühte, den Anarchisten das Handwerk zu legen und einen Aufruhr in den Straßen Londons zu verhindern.
    Pitt fand ihn im üblichen Hinterzimmer. Er wirkte müde und angespannt.
    »Was wollen Sie?«, fragte Narraway kurz angebunden.
    Obwohl Pitt ein Dutzend Mal hin und her überlegt hatte, was er sagen wollte, fehlten ihm die richtigen Worte. Aufmerksam musterte er Narraways Gesicht – die geraden Augenbrauen, die tief liegenden klugen Augen und die tief eingegrabenen Linien, die von der Nase zum Mund liefen. Es wäre sicherlich ein Fehler, diesen Mann zu unterschätzen.
    »Karansky hat James Sissons nicht umgebracht«, sagte er übergangslos. »Harper hat sich die Beschreibung des Täters aus den Fingern gesogen und die Zeugen unter Druck gesetzt, um jemanden zu haben, dem er die Sache anhängen kann.«
    »Sind Sie sich dessen sicher?«, fragte Narraway mit ausdrucksloser Stimme.
    »Sie etwa nicht?«, wollte Pitt wissen. »Sie kennen Spitalfields und haben mich zu Karansky geschickt. Haben Sie ihm da etwa einen Mord zugetraut?«
    »Wenn der Preis hoch genug ist, kann man den meisten Menschen einen Mord zutrauen, sogar einem Isaak Karansky. Falls Ihnen das nicht bekannt sein sollte, haben Sie den falschen Beruf.«
    Pitt nahm den Vorwurf hin. Er hatte die Frage zu plump gestellt, er war überreizt.
    »Waren Sie je der Ansicht, dass er einen Aufruhr plante oder die Bestrafung von Gläubigern, die keine Wucherzinsen zahlen?«, korrigierte er sich.
    Narraway verzog den Mund. »Nein. Ich

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