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Die Verschwoerung von Whitechapel

Die Verschwoerung von Whitechapel

Titel: Die Verschwoerung von Whitechapel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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die halbe Nacht überlegt, mir ist aber nichts eingefallen, was wir unternehmen könnten. Soweit ich weiß, hat der stellvertretende Polizeipräsident meinem Mann diese Sache in Spitalfields besorgt, zum einen, weil er da in Sicherheit ist, aber auch, damit er irgendeine Art von Einkommen hat. Die Leute, denen er in die Quere gekommen zu sein scheint, sähen es am liebsten, wenn ihm gar nichts bliebe, und wüssten nur allzu gern, wie sie an ihn herankommen könnten.« Am liebsten hätte sie ihre Befürchtungen nicht in Worte gefasst, doch musste sie sie erklären. »Möglicherweise hätten sie auf der Straße einen Unfall inszeniert oder etwas in der Art …«
    Gracie reagierte erstaunlich gelassen auf diese Vorstellung; vielleicht hatte sie in ihrer Jugend im East End zu viele Tote gesehen. Sie kannte alle Gesichter der Armut, auch wenn all das in ihrer Erinnerung inzwischen ein wenig verblasst sein mochte. Ihre Wut aber war unübersehbar. Ihr schmales Gesichtchen wurde hart, und sie presste die Lippen fest aufeinander.
    »Is das der Lohn dafür, dass er seine Arbeit ordentlich gemacht und diesen Adinett an den Galgen gebracht hat? Was woll’n die denn von ihm? Hätte er etwa sagen sollen, dass der Kerl Mr. Fetters umgebracht hat, wär ganz in Ordnung? Oder hätte er sich dumm stellen und so tun sollen, wie wenn nichts passiert wär?«
    »Vermutlich hat man genau das von ihm erwartet«, antwortete Charlotte. »Ich nehme an, dass so manchem Arzt nichts aufgefallen wäre. Es war einfach Pech für diese Leute, dass Ibbs Unrecht gewittert und ausgerechnet Thomas gerufen hat.«
    »Was für einer is dieser Adinett überhaupt?«, fragte Gracie mit gehobenen Brauen. »Und warum soll er für den Mord nich bestraft werden?«
    »Er gehört zum Inneren Kreis«, sagte Charlotte. Bei diesen Worten lief ihr ein Schauer über den Rücken. »Ist der Tee immer noch nicht so weit?«
    Gracie sah sie aufmerksam an. Vermutlich wollte sie feststellen, wie sich Charlotte fühlte. Sie goss den Tee ein. Er war recht schwach und viel zu heiß, aber allein der Geruch tat Charlotte wohl.
    »Soll das heißen, die kommen damit durch, dass sie jemand umbringen? Passiert denen nix?« Gracie war außer sich vor Empörung.
    »Ja, solange sich ihnen kein sehr tapferer oder unvorsichtiger Mensch in den Weg stellt, der dann ebenfalls beseitigt wird.« Charlotte versuchte, an der Tasse zu nippen, merkte aber gleich, dass sie sich den Mund verbrennen würde, und noch mehr Milch würde den Geschmack verderben.
    »Und was könn’ wir tun?« Gracie sah sie mit großen Augen an. »Wir müssen beweisen, dass Mr. Pitt Recht hatte! Wir wissen nich, wer zu dem Kreis da gehört, aber wir wissen, dass es von uns mehr wie von denen gibt.« Ihr kam gar nicht in den Sinn anzunehmen, Pitt hätte sich irren können. Es war ihr nicht einmal der Mühe wert, diese Möglichkeit zu bestreiten.
    So elend Charlotte sich fühlte, sie musste unwillkürlich lächeln. Gracies Treue half ihr im Augenblick mehr als der Tee. Auf keinen Fall durfte sie weniger tapfer oder zuversichtlich sein als die junge Frau. Damit das Schweigen nicht zu lange dauerte, sagte sie das Erste, was ihr in den Sinn kam.
    »Was dies Verfahren so schwierig gemacht hat, war, dass niemand das Motiv für Adinetts Tat kannte. Die beiden Männer waren seit Jahren miteinander befreundet, und niemand wusste etwas von einem Streit zwischen ihnen, weder am Tag der Tat noch zu irgendeinem anderen Zeitpunkt. Manche Leute konnten einfach nicht glauben, dass Adinett ein Motiv hätte haben können. Nichts wies auf Gefühle hin, alles gründete sich auf Sach-Indizien. Zwar waren es ziemlich viele, aber keins von ihnen schien besonders bedeutungsvoll zu sein.« Sie nahm
einen kleinen Schluck Tee. »Einige der Zeugen sind umgefallen, als es ans Schwören ging und der Verteidiger sie ins Kreuzverhör genommen und versucht hat, ihre Aussage als unglaubwürdig hinzustellen.«
    »Dann müssen wir eben rauskriegen, warum er das gemacht hat«, sagte Gracie schlicht. »Bestimmt hat er ’nen Grund gehabt, umsonst hat er das sicher nich gemacht.«
    Charlotte begann nachzudenken. In den Zeitungen hatte kaum etwas über die beiden Männer gestanden. Von ihrer Achtbarkeit war die Rede gewesen, ihrer gesellschaftlichen Stellung und davon, wie unverständlich die ganze Angelegenheit war. Sofern die Anklage Recht hatte, und daran zweifelte sie nicht im Geringsten, musste es weit mehr geben, etwas so Unvorstellbares und Abscheuliches,

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