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Die Verschwoerung von Whitechapel

Die Verschwoerung von Whitechapel

Titel: Die Verschwoerung von Whitechapel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Junge auf dem Lande. Nachdem die Polizei den Vater fortgeführt hatte, war er mit der Mutter aus dem Häuschen des Wildhüters in die Gesinderäume des Herrenhauses gezogen. Damals hatten sie sich glücklich geschätzt. Die meisten anderen hätten sie auf die Straße gesetzt, doch Sir Matthew Desmond hatte sie aufgenommen.
     
    Während er sich in dem Zimmer umsah und wieder an die Armut, die Kälte und die Angst denken musste, kam es ihm vor, als wären die Jahre dazwischen nichts als ein Traum gewesen, als könne er jeden Augenblick aufwachen und müsse sich dem Tag und der Wirklichkeit stellen. Der Geruch im Raum kam ihm seltsam vertraut vor. Dessen Kahlheit ließ ihn daran denken, wie kalt es dort sein würde – bloße Füße auf dem nackten
Boden, Eisblumen auf den Fensterscheiben, kaltes Wasser in der Waschkanne.
    Das Haus in der Keppel Street erschien ihm wie etwas, das er sich ausgedacht hatte. Ihm würden die kleinen Behaglichkeiten des Alltags fehlen, an die er sich gewöhnt hatte. Noch viel mehr aber, in geradezu unerträglicher Weise, würde ihm die Wärme fehlen, das Gelächter, die Zuneigung und die Geborgenheit.
    »Es kostet zwei Shilling die Woche«, sagte Karansky leise hinter ihm. »Wenn Sie essen wollen, macht das weitere ein Shilling Sixpence. Sie dürfen sich gern mit uns an den Abendbrottisch setzen.«
    Beim Gedanken an das, was Narraway über Karanskys Stellung in der Gemeinde gesagt hatte, zögerte Pitt nicht anzunehmen. »Danke, das wäre großartig.« Er nahm die Miete für die erste Woche aus der Hosentasche. Wie Narraway gesagt hatte, musste er sich so schnell wie möglich um eine Arbeit kümmern, um kein Misstrauen zu erwecken. »Wo findet man am besten Arbeit?«
    Karansky zuckte viel sagend die Achseln. Auf seinen Zügen lag Bedauern. »›Am besten‹ gibt es nicht. Jeder sieht zu, wo er bleibt. Sie sehen ziemlich kräftig aus. Welche Arbeit sind Sie bereit zu tun?«
    Bis zu diesem Augenblick hatte Pitt noch nicht ernsthaft darüber nachgedacht. Erst als er das Geld für die Miete abzählte, ging ihm auf, dass er eine sichtbare Einkommensquelle haben musste, um nicht beargwöhnt zu werden. Schon viele Jahre hatte er nicht mehr körperlich gearbeitet. Zwar belastete seine Tätigkeit bisweilen die Füße, aber ansonsten benutzte er vorwiegend seinen Kopf, vor allem, seit er an die Spitze der Wache in der Bow Street getreten war.
    »Ich bin nicht wählerisch«, sagte er. Wenigstens war der Hafen nicht so nahe, sodass er auf keinen Fall Kohlensäcke oder Kisten schleppen musste. »Was ist mit der Zuckerfabrik in der Brick Lane? Ich bin da gerade dran vorbeigekommen, außerdem kann man sie von hier aus riechen.«
    Karansky hob eine schwarze Braue. »Die interessiert Sie wohl?«
    »Nicht unbedingt. Ich habe nur gedacht, dass man da vielleicht Arbeit für mich hätte. Die brauchen da doch sicher viele Leute, oder nicht?«
    »O ja, hunderte«, stimmte Karansky zu. »Jede zweite Familie hier in der Gegend verdient zumindest einen Teil ihres Unterhalts in der Fabrik. Sie gehört einem gewissen Sissons. Er hat drei davon, zwei auf dieser Seite der Whitechapel Road und die dritte auf der anderen.«
    Etwas in der Art, wie er das sagte, fiel Pitt auf. Es war ein gewisses lauerndes Zögern.
    »Ist das gute Arbeit?«, erkundigte er sich, bemüht, die Frage beiläufig klingen zu lassen.
    »Jede Arbeit ist gut«, gab Karansky zur Antwort. »Der Mann zahlt recht ordentlich. Der Arbeitstag ist lang, und die Arbeit kann hart sein, aber man kann davon leben, wenn man sich vorsieht. Es ist sehr viel besser, als zu verhungern – solche Leute gibt es hier übergenug. Aber versteifen Sie sich nicht darauf, wenn Sie niemanden kennen, der Ihnen da die Türen öffnet.«
    »Tu ich nicht. Wo könnte ich mich sonst noch umsehen?«
    »Sie wollen es also gar nicht erst probieren?«
    »Doch, gern. Aber Sie haben gesagt, ich soll mich nicht darauf verlassen.«
    Man hörte ein Geräusch vor der Tür, und Karansky wandte sich um. An ihm vorüber sah Pitt eine hübsche Frau auf dem Treppenabsatz stehen. Sie war etwa im gleichen Alter wie Karansky, aber ihr dichtes Haar war noch dunkel. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von Mattigkeit und Sorge, und der Blick ihrer Augen wirkte gehetzt, als wäre Angst ihre ständige Begleiterin. Trotzdem waren ihre Züge schön, und sie strahlte eine tiefe Würde aus.
    »Ist Ihnen das Zimmer recht?«, fragte sie zögernd.
    »Es ist in Ordnung, Lea«, versicherte ihr Karansky. »Mr. Pitt

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