Die Verschwoerung von Whitechapel
dass es zum Mord an dem einen und zur Todesstrafe für den anderen geführt hatte. »Welchen Grund könnte jemand dafür haben, dass er nicht einmal dann zu seiner eigenen Verteidigung sagt, warum er einen Freund umgebracht hat, wenn er dafür gehängt werden soll?«, überlegte sie laut.
»Weil ihn das nich entschuldigen würde«, sagte Gracie. »Sonst hätte er es gesagt.«
Charlotte hing ihren Gedanken nach, während sie erneut an der Teetasse nippte. »Warum bringt jemand einen Freund um – einen Menschen, in den er nicht verliebt und mit dem er auch nicht verwandt ist, sodass er nicht hoffen darf, etwas von ihm erben zu können?«
»So was machen Leute, die einen hassen oder Angst vor ihm haben«, sagte Gracie. »Oder solche, die scharf auf was sind, was er hat, er es aber nich hergeben will. Oder Leute, die verrückt vor Eifersucht sind.«
»Gehasst haben die beiden einander nicht«, sagte Charlotte und griff nach Brot und Messer. »Sie waren seit Jahren eng befreundet, und niemand weiß von einem Streit.«
»Vielleicht doch Eifersucht?«, schlug Gracie vor. »Wenn ihn nun Fetters zusammen mit seiner Frau erwischt hätte?«
»Möglich«, sagte Charlotte nachdenklich, während sie die Butterschale und das Marmeladenglas zu sich heranzog. »So etwas würde er nicht zu seiner Verteidigung anführen – erstens
könnte ihn das nicht entschuldigen, und zweitens würde man ihn dafür umso mehr verachten. Allerdings könnte er es bestreiten und sagen, Fetters habe sich das nur eingebildet und sei nicht bereit gewesen, sich seine Erklärungen anzuhören, sondern über ihn hergefallen.« Sie holte tief Luft. Während sie in das Brot biss, merkte sie, dass sie Hunger hatte. »Allerdings würde er das kaum von der Bibliotheksleiter herunter tun, oder? Jedenfalls würde ich als Geschworene das nicht glauben.«
»Sie als Frau wären aber keine Geschworene«, machte Gracie sie aufmerksam. »Außerdem muss man Hausbesitzer sein und Geld haben.«
Charlotte sagte nichts darauf. »Wo du gerade von Geld sprichst: Und was ist mit Geld als Motiv?«
Gracie schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nix vorstellen, über was ich mich von ’ner Leiter runter streiten würde, schon gar nich, wenn se Räder hat.«
»Ich ebenso wenig«, gab ihr Charlotte Recht. »Was auch immer es gewesen sein mag, Adinett hat sich große Mühe gegeben, es zu verbergen und den Eindruck zu erwecken, als hätte er nichts damit zu tun. Also muss es etwas gewesen sein, dessen er sich schämt.« Sie standen wieder am Anfang.
»Wir müssen mehr rauskriegen«, sagte Gracie. »Und Sie sollten erst mal ordentlich frühstücken. Wollen Se was Warmes? Ich könnte Ei auf Toast machen.«
»Nein, das genügt, vielen Dank«, lehnte Charlotte ab. »Vielleicht wäre es ohnehin besser, Eier künftig nur noch zu den Hauptmahlzeiten auf den Tisch zu bringen. Schließlich leben hier im Hause keine schwer arbeitenden Männer, sondern nur Frauen und Kinder.«
Gracie nahm das kommentarlos hin. Sie wusste, was Armut war.
»Ich denke, ich suche die Witwe einmal auf«, sagte Charlotte, nachdem sie eine weitere Scheibe Toast gegessen hatte. »Thomas hat gesagt, sie sei sehr umgänglich und von Adinetts Schuld voll und ganz überzeugt. Vielleicht möchte sie ebenso dringend wissen wie ich, warum ihr Mann sterben musste. Ich an ihrer Stelle würde das auf jeden Fall wissen wollen!«
»Ein guter Einfall.« Gracie begann, den Tisch abzuräumen, und trug Butter und Marmelade zurück in die Speisekammer. »Bestimmt weiß sie was über Adinett und ’ne Menge über ihren armen Mann. Sicher is es für sie entsetzlich. Wenn ich jemand verlieren würde, den ich liebe, würde ich garantiert nich gern den ganzen Tag allein im Haus rumsitzen, Fenster zu, Spiegel verhängt und alle Uhren angehalten, wie wenn ich selber tot wär! Schlimm genug, dass man Schwarz tragen muss. Ich war bei der Beerdigung von meinem Opa in Schwarz und musste mich die ganze Zeit ins Gesicht schlagen, um ’n bisschen Farbe zu kriegen. Sonst hätt ich so ausgesehen, dass sie mich beerdigt hätten un nich ihn.«
Wider Willen musste Charlotte lächeln. Sie stand auf, goss ein wenig Milch für Archie und Angus in eine Untertasse und kratzte dann in den Katzennapf, was vom Vorabend an Hackfleisch und Kartoffelbrei übrig geblieben war. Schnurrend drückten sich die beiden an ihre Beine und stürzten sich dann heißhungrig auf die Mahlzeit.
Als Charlotte sicher war, dass Gracie alles hatte, was sie für den Rest
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