Die Verschwoerung von Whitechapel
Silberpreis war stark gesunken, und die Bank hatte beträchtliche Verluste an den Märkten von Melbourne und Singapur erlitten. Auch die Liquidation der Waffenfabrik Gatling Gun hatte sich negativ auf sie ausgewirkt. Den entscheidenden Stoß aber hatte ihr ein Wirbelsturm auf Mauritius versetzt.
Charlotte sparte sich den Rest. Ihr Blick wanderte über die Seite abwärts und blieb an der Mitteilung hängen, dass John Adinett um acht Uhr an jenem Vormittag hingerichtet werden sollte.
Unwillkürlich sah sie auf die Küchenuhr. Es war Viertel vor acht. Hätte sie die Zeitung doch erst später aufgeschlagen –
schon eine halbe Stunde hätte genügt. Warum hatte sie nicht daran gedacht, die Tage abgezählt und heute einfach nicht in die Zeitung gesehen?
Adinett hatte nicht gezögert, Martin Fetters zu töten, und je mehr Charlotte über Fetters erfuhr, desto mehr war sie überzeugt, dass er ihr sympathisch gewesen wäre. Er war begeisterungsfähig gewesen, hatte das Leben mutig beim Schopf gepackt, seine bunte Vielfalt geliebt. Stets hatte er sich bemüht, möglichst viel über andere Menschen in Erfahrung zu bringen, und seinen Schriften hatte sie entnommen, dass er großen Wert darauf legte, sein Wissen mit anderen zu teilen, damit möglichst niemand von dem ausgeschlossen blieb, was ihn so fesselte. Sein Tod bedeutete nicht nur für seine Frau, die Archäologie und die Altertumskunde einen Verlust, sondern auch für jeden, der ihn kannte.
Trotzdem machte Adinetts Hinrichtung nichts besser. Charlotte zweifelte, dass sich andere dadurch künftig von Verbrechen abschrecken lassen würden. Das Einzige, was einen Menschen von einem Verbrechen abhalten konnte, war die Gewissheit, bestraft zu werden, nicht aber die Schwere der Strafe. Da aber jeder Straftäter annahm, er werde davonkommen, hatte die lediglich angedrohte Strafe keinerlei Wirkung.
Gracie kam durch die Spülküche herein. Sie hatte dem Fischhändler an der Hintertür Heringe abgekauft.
»Die gibt es zum Abendessen«, sagte sie munter, während sie durch die Küche in die Speisekammer eilte und den Topf dort abstellte. In Gedanken verloren redete sie mit sich selbst, überlegte laut, was sie zu welcher Mahlzeit auf den Tisch bringen wollte, wie viel Mehl und Kartoffeln sie noch im Hause hatten und ob noch genug Zwiebeln da waren. Sie verbrauchten zurzeit viele davon, um die sehr einfachen Speisen geschmacklich zu verbessern.
Charlotte, der es so vorkam, als ob sich Gracie in letzter Zeit oft Sorgen machte, nahm an, dass es mit Tellman zu tun hatte. Auch wenn sie ihn nicht selbst gesehen hatte, wusste sie, dass er vor einigen Tagen abends da gewesen war. Sie hatte seine Stimme gehört und nicht stören wollen. Das Bewusstsein, dass Tellman
in der Küche saß, ganz so, als wäre Pitt noch zu Hause, verstärkte ihr Gefühl der Einsamkeit.
Sie freute sich für Gracie, und ihr war bewusst, wahrscheinlich mehr als Gracie selbst, dass Tellman vergeblich gegen seine Gefühle für sie ankämpfte. Gegenwärtig fiel es ihr schwer, sich über etwas zu freuen. Pitts Abwesenheit setzte ihr sehr zu. Die Abende, an denen sie im Bewusstsein dasaß, dass sie seine Schritte nicht hören würde, kamen ihr endlos vor. Niemand war da, dem sie von ihrem Tag berichten konnte. Natürlich gab es nicht immer aufregende Ereignisse, doch hatte sie auch über unwichtige Dinge sprechen können – eine neue Blume im Garten, Klatsch, den sie gehört hatte, vielleicht einen Scherz. War etwas nicht so abgelaufen, wie es sollte, hätte sie vielleicht auch nicht darüber geredet, doch das Bewusstsein, dass sie es hätte tun können, hatte ihren Ärger erträglicher gemacht, ihn als etwas erscheinen lassen, was man nicht so ernst zu nehmen brauchte. Es war sonderbar, aber sie hatte stets den Eindruck gehabt, als sei eine Freude, die man nicht mit einem anderen teilen konnte, nur halb so beglückend und jedes Missgeschick, das man allein ertragen musste, doppelt so schlimm.
Doch weit mehr als ihre Einsamkeit quälte sie die Angst um Pitt, die tägliche Sorge, ob er genug aß, nicht fror, ob es jemanden gab, der für ihn wusch. Hatte er wenigstens eine einigermaßen behagliche Unterkunft gefunden? Ihre wirkliche Sorge galt seiner Sicherheit, nicht nur vor den Anarchisten, Bombenwerfern oder hinter was für Leuten auch immer er da her sein mochte, sondern in erster Linie vor seinen verborgenen und weit mächtigeren Feinden im Inneren Kreis.
Die Uhr schlug. Sie nahm es unterschwellig wahr.
Weitere Kostenlose Bücher