Die Verschwoerung von Whitechapel
Tür öffnete sich, und Gracie stieß einen lauten Schrei aus, als sie fast mit ihm zusammengestoßen wäre. Ein emaillierter Kochtopf fiel ihr aus der Hand und schepperte auf der steinernen Stufe.
»Ungeschickter Tölpel!«, fuhr sie ihn an. »Wozu stehen Sie hier und halten Maulaffen feil? Was ist mit Ihnen los?«
Er bückte sich, hob den Topf auf und gab ihn ihr. »Ich bin gekommen, um Ihnen zu erzählen, was ich herausgefunden habe«, sagte er schroff. »Und Sie sollten gute Töpfe nicht einfach
fallen lassen. Das Email splittert ab, und dann sind sie nicht mehr zu gebrauchen.«
»Er wär mir nich runtergefallen, wenn Sie mir nich so ’nen Schreck eingejagt hätten«, hielt sie ihm vor. »Warum ha’m Se denn nich geklopft wie ’n normaler Mensch?«
»Das wollte ich ja gerade!« Eine richtige Lüge war das nicht. Natürlich hätte er irgendwann geklopft.
Sie maß ihn von Kopf bis Fuß. »Dann kommen Sie besser rein. Ich hoffe, Sie haben genug zu sagen, damit sich das auch lohnt.« Sie drehte sich um, sodass ihre Röcke schwangen, und trat ins Haus zurück. Er folgte ihr durch die Spülküche in die Küche und schloss beide Türen hinter sich. Von Charlotte war nichts zu sehen.
»Und reden Sie nich so laut!«, mahnte ihn Gracie, als könnte sie seine Gedanken lesen. »Die Gnädige is oben und liest Daniel und Jemima was vor.«
»Jemima kann selbst lesen«, sagte er verwirrt.
»Klar kann sie das!«, sagte sie, um Geduld bemüht. »Aber ihr Papa is nich zu Hause, und wir haben lange nix von ihm gehört. Kein Mensch weiß, was mit ihm is – ob sich jemand um ihn kümmert oder so. Da tut es Kindern gut, wenn man ihnen was vorliest!« Sie zog die Nase hoch und wandte sich ab, damit er nicht sehen konnte, dass ihr die Tränen über das Gesicht liefen. »Was haben Sie also rausgekriegt? Vermutlich woll’n Se ’ne Tasse Tee? Und ’n Stück Kuchen?«
»Gern.« Er nahm am Tisch Platz, während sie den Wasserkessel aufsetzte, die Teekanne, zwei Tassen und mehrere Stücke frischen Johannisbeerkuchen auf den Tisch stellte, wobei sie ihm ständig den Rücken zugekehrt hielt.
Er beobachtete ihre flinken Bewegungen, ihre schmalen Schultern unter dem Baumwollkleid, die Taille, die er mit den Händen hätte umschließen können. Wie gern hätte er sie getröstet, aber sie war viel zu stolz, als dass sie das zugelassen hätte. Was hätte er auch sagen können? Nie und nimmer würde sie ihm glauben, wenn er sagte, dass alles gut würde. In ihrem nahezu einundzwanzigjährigen Leben hatte sie so manche Tragödie miterlebt. Bisweilen siegte die Gerechtigkeit, aber keineswegs immer.
Er musste etwas sagen. Die Küchenuhr tickte. Allmählich begann der Kessel zu summen. In der Küche war es so warm und wohlriechend wie immer. Wie oft war er hier rundum glücklich gewesen, hatte sich richtig behaglich gefühlt, mehr als an jedem anderen Ort, an den er sich erinnern konnte.
Sie stellte die Teekanne mit solchem Nachdruck auf den Tisch, dass er fürchtete, sie werde in Stücke gehen.
»Sagen Sie es mir jetzt oder nicht?«, wollte sie wissen.
»Ja doch!«, knurrte er, verärgert über sein Begehren, sie zu berühren, freundlich zu ihr zu sein, liebevoll die Arme um sie zu legen und sie an sich zu drücken. Nach längerem Räuspern begann er: »Adinett hat mindestens dreimal die Cleveland Street in Mile End aufgesucht. Beim letzten Mal war er ganz offensichtlich über etwas erregt. Er ist von dort unmittelbar zu Thorold Dismore gegangen, dem Verleger der Zeitung, die immer gegen die Königin vom Leder zieht und behauptet, dass der Kronprinz zu viel Geld verbraucht.«
Sie stand ganz still, die Brauen gefurcht. Sie sah verwirrt drein.
»Was will ’n feiner Herr wie Mr. Adinett in Mile End? Huren gibt’s sehr viel näher reichlich, und außerdem sind die nicht so verlottert! Ganz davon abgesehen riskiert er da draußen, dass man ’n um die Ecke bringt.«
»Als ob ich das nicht wüsste. Das ist aber noch nicht alles. Er hat dort kein Bordell aufgesucht, sondern einen Tabakladen.«
»Er is nach Mile End gefahren, um Tabak zu kaufen? «, fragte sie ungläubig.
»Nein«, korrigierte er sie. »Bestimmt wollte er da etwas anderes, aber ich weiß noch nicht, was. Als ich heute Nachmittag noch einmal dort war, kam doch tatsächlich Lyndon Remus in den Laden spaziert, der Journalist, der all den Unrat ausgegraben hat, als Mr. Pitt am Mordfall am Bedford Square gearbeitet hat.« Er beugte sich eindringlich vor und stützte die
Weitere Kostenlose Bücher