Die Verschwoerung von Whitechapel
Dienstmädchen gerichtet, doch sie wusste, dass die Beziehung zwischen ihrer Schwester und Gracie anders war als üblich.
Charlotte setzte den Wasserkessel auf. »Beide waren Befürworter von Reformen«, fuhr sie fort.
Emily setzte sich, wobei sie die Schöße ihrer Jacke so ausbreitete, dass sie nicht knittern konnten. »Ist das nicht jeder? Jack sagt, dass die Situation allmählich zum Auswachsen ist.« Sie sah auf ihre eleganten und bei aller Kleinheit erstaunlich kräftigen Hände, die auf dem Tisch lagen. »Im Lande hat immer eine gewisse Unruhe geherrscht, aber zurzeit ist es viel schlimmer als noch vor zehn Jahren. So viele Ausländer kommen nach London, und es gibt nicht genug Arbeit. Vermutlich treiben die Anarchisten schon seit Jahren ihr Unwesen, doch inzwischen sind es mehr denn je, und sie sind ausgesprochen gewalttätig.«
All das war Charlotte bekannt. Die Zeitungen hatten oft genug darüber berichtet, vor allem im Zusammenhang mit dem Prozess gegen einen französischen Anarchisten namens Ravechol, der versucht hatte, ein Restaurant in die Luft zu sprengen. Sie wusste auch, dass solche Leute in London vorwiegend im East End tätig waren, wo die Armut am deutlichsten zutage trat und die Unzufriedenheit der Menschen am größten war. Genau das war ja der Vorwand gewesen, unter dem man Pitt dorthin geschickt hatte.
»Was ist?«, fragte Emily rasch, als sie Charlottes Gesichtsausdruck sah.
»Sind die deiner Meinung nach wirklich gefährlich? Ich meine, gefährlicher als einzelne Verrückte?«
Emily überlegte einen Augenblick, bevor sie antwortete. Charlotte fragte sich, ob sie das tat, um nachzudenken, was sie wusste, die richtigen Worte zu finden, oder, schlimmer noch, ob sie taktvoll sein wollte. Falls das der Fall war, konnte sie sich denken, wie verheerend ihre spontane Antwort ausgefallen
wäre. Es gehörte nicht zu Emilys Art, um den heißen Brei herumzureden, was nicht ausschloss, dass sie mitunter unaufrichtig war – offen gestanden war sie auf dem Gebiet eine Meisterin.
»Ehrlich gesagt, macht sich Jack, glaube ich, ziemliche Sorgen«, begann sie, als Gracie den Tee serviert hatte. »Nicht wegen der Anarchisten, denn das sind nur Einzelne, wohl aber wegen der allgemeinen Situation. Die Monarchie ist zurzeit ausgesprochen unbeliebt, wie du weißt, und das nicht nur bei Menschen, von denen man das erwarten würde, sondern auch bei solchen, die ausgesprochen wichtige Ämter bekleiden und von denen du es womöglich nicht glauben würdest.«
»Unbeliebt?« Charlotte war verblüfft. »Wieso das? Ich kenne zwar Leute, die der Ansicht sind, dass die Königin weit mehr tun sollte, aber das sagen die seit dreißig Jahren. Meint Jack, dass sich das sehr geändert hat?«
»Geändert vielleicht nicht.« Emily sprach in sehr ernsthaftem Ton und wog ihre Worte sorgfältig ab. »Aber er sagt, es ist sehr viel schlimmer geworden. Bekanntlich wirft der Kronprinz mit Geld nur so um sich, und dabei ist das meiste davon geliehen. Er hat enorme Schulden bei allen möglichen Leuten. Es sieht so aus, als könnte er nicht damit aufhören, und falls ihm bewusst sein sollte, welchen Schaden er damit anrichtet, scheint ihm das nichts auszumachen.«
»Sprichst du von politischem Schaden? «, fragte Charlotte.
»Auf lange Sicht bestimmt.« Emily senkte die Stimme. »Manche glauben, dass es mit der Monarchie hier im Lande aus ist, wenn die Königin stirbt.«
Erstaunt fragte Charlotte: »Wirklich?« Es war ein überraschend unangenehmer Gedanke. Sie wusste selbst nicht recht, warum er ihr nicht gefiel. Mit der Monarchie würde ein Teil des Glanzes dahingehen, hätte das Leben weniger Farbe. Auch wenn man selbst die Gräfinnen und Herzoginnen nie zu sehen bekam und es für sie keinerlei Möglichkeit gab, je als Dame von Adel oder gar als Prinzessin aufzutreten, müsste doch durch deren Abwesenheit alles in einheitlichem Grau erscheinen. Sie war überzeugt, dass die Menschen immer Helden brauchen würden, ob wirkliche oder falsche. Nichts an der Aristokratie
war wesensgemäß besonders edel, doch würde man die Helden, die dann deren Stelle einnehmen würden, nicht unbedingt wegen ihrer Tugendhaftigkeit oder ihrer Leistungen auswählen. Es war ohne weiteres möglich, dass man dabei nach ihrer Schönheit oder ihrem Reichtum vorging. Dann wäre der Zauber grundlos dahin – und ohne dass damit etwas gewonnen wäre.
All diese Erwägungen waren ziemlich töricht, und das war ihr auch klar. Entscheidend war, dass ein
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